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Verlieb dich nie in einen Vargas

Verlieb dich nie in einen Vargas

Titel: Verlieb dich nie in einen Vargas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Ockler
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–, den Herzschlag in meinen Ohren und vielleicht das Zelle-für-Zelle-Wachsen der Bäume keine Geräusche existierten.
    Emilios Hände glitten zu meinem Nacken. Er fasste meine langen Haare zusammen und hielt sie zurück. Ich kämpfte dagegen an, zu zittern, zu erschauern.
    »Beug dich vor«, sagte er. »Und atme tief durch die Nase ein.«
    »Im Ernst?«
    »Würde ich über so etwas Witze machen?« Selbst in der Sanftheit seiner Mondlichtstimme schwang ein verspielter, neckender Ton mit.
    Ich beugte mich vor und sog die Luft ein.
    Eine süße Wolke. Nicht zuckrig oder sirupartig. Es war keine Blume. Es war unaufdringlicher, zugleich jedoch mächtiger, unterlegt mit etwas Waldigem und Altem. Hier im Dunkeln, allein im Wald mit Emilio Vargas, hatte alles eine neue Intensität gewonnen, einen surrealen Zauber, der bei Tageslicht nicht existierte.
    Es war berauschend. Der Duft. Das Gefühl. Das gleichzeitige Hoffen und Bangen.
    »Es riecht wie … Vanilleschote?«, sagte ich.
    »Karamellbonbons.«
    Ich dachte, er sei endlich mit der versprochenen Süßigkeit rausgerückt, und wollte ihm schon enorme Anerkennung dafür zollen, wie er die Spannung aufgebaut hatte, denn wow , was für eine ausgefeilte Darbietung. Mein Herz hämmerte noch immer gegen meine Rippen.
    Ich schlug die Augen auf. Ich stand einen Zentimeter von einem gewaltigen Baumstamm entfernt.
    »Ponderosa-Kiefer«, sagte er. »Die Rinde riecht wie Karamellbonbons.«
    »Wann bist du zum Baumschnüffler geworden?« Ich schnupperte erneut. »Ich lebe schon mein ganzes Leben hier und wusste nicht, dass wir Karamellbonbonbäume haben.«
    »Mein Cousin Danny hat mir das gezeigt. Er war ein Hobbit oder so. Kein Witz. Als wir noch Kinder waren, gingen wir in den Wald, um Verstecken zu spielen oder Räuber und Gendarm, und Stunden später fragten sich alle: Wo zum Teufel ist Danny? Wir fanden ihn dann irgendwo im Wald, wo er sich Blätter und Käfer und so’n Zeug ansah und einfach sein Ding machte. Er hat mir immer Sachen über Bäume erzählt. Hat gedacht, ich würde ihm nicht zuhören.« Emilio schüttelte den Kopf. »Durchgeknallter Naturbursche, der Bastard.«
    Ich erinnerte mich an das Bild auf Emilios Schreibtisch, das mit der Echse, aber es zu erwähnen, hätte bedeutet, ihn wissen zu lassen, dass ich in seinem Zimmer gewesen war. »Wo ist er jetzt?«
    »Er ist …« Emilio antwortete nicht sofort, so als rufe er sich eine Adresse ins Gedächtnis. »In Puerto Rico. Hoffentlich surft er gerade an irgendeinem umwerfenden Strand. Ich hab noch was. Komm mit.«
    Er drang tiefer in den Wald vor und ich folgte ihm schweigend. Ich wollte ihn nach Danny fragen, nach seinen Brüdern, nach den Karten in seinem Zimmer. Ich wollte ihm sagen, dass die Sache mit der Ponderosa-Kiefer so klein und doch so kostbar gewesen war und dass ich wusste – in diesem Moment noch mehr als beim Plätzchenbacken in seiner Küche –, wie falsch meine Schwestern lagen, was seine Familie anging, dass es ihm nicht in die Wiege gelegt worden war, grausam zu sein, dass er mir niemals so wehtun könnte, wie seine Brüder ihnen wehgetan hatten. Dass es in Ordnung war, das hier zu wollen – allein im mondbeschienenen Wald zu sein, über Bäume zu reden, während die Rauchschwaden des Feuerwerks noch immer schwach und blau in der Luft hingen.
    Automatisch dachte ich wieder an Celi, wie sie weinend im Bett gelegen hatte, und an Moms Gesicht in den Wochen, die folgten, als sie sich bemühte, ihr Geld für den Blumenschmuck und das Catering und all das zurückzubekommen, dessen sie sich zuvor so sicher gewesen waren. Ich dachte an Mari, die Celis Haare im Waschbecken wusch, weil unsere Schwester nicht die Kraft besaß, es selbst zu tun, und wie sie es geglättet hatte, und alles, was Celi tat, war, zurück ins Bett zu gehen. Ich dachte auch an Lourdes zurück, an den Morgen, an dem ich ihre Abschlussballkorsage im Müll entdeckt hatte. Ich hatte es zuerst für ein Versehen gehalten – die Blumen waren so hübsch –, und hatte sie daher herausgeholt und am Rand des Spülbeckens abgelegt, und später verschwand sie, ohne dass jemand ein Wort darüber verloren hätte.
    Lourdes hatte ebenfalls sehr viel geweint, und danach wurden Miguel die Augen auf allen Fotos ausgekratzt, die sie einst so liebevoll um ihren Schlafzimmerspiegel drapiert hatte. Sie alle teilten dasselbe Schicksal in dem schwarzen Buch.
    Aber Emilio war nicht wie seine Brüder. Er war anders. Er war großherzig und witzig. Er war

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