Verlieb dich nie nach Mitternacht
das.«
»Bist du schwachsinnig, dass du mir meine Worte nachplapperst, ohne deinen Verstand zu gebrauchen?« Gereizt klappte Agnes die neueste Ausgabe des Journal des Luxus und der Moden zu, einer Zeitschrift, in der sie vor allem auch die gelegentlichen Beiträge der Christiane Vulpius, Ehefrau des Weimarer Dichterfürsten Goethe, schätzte.
»Ja.« Trotzig hielt Maribel dem Blick der jungen Frau stand. Doch ihr Instinkt warnte sie davor, sie zu sehr zu reizen. Agnes von Leyen wirkte blass und zierlich wie eine Puppe, doch hinter der hohen Stirn verbarg sich ein scharfer Verstand. Und vor allem war sie als Hausherrin im Stande, Maribel das Leben zusätzlich schwerzumachen.
»Ist es auch ein Zeichen deines Schwachsinns, dass du dich mitten in der Heiligen Nacht auf einem einsamen Kutschweg herumtreibst?«
»Ich war auf Besuch bei meiner Familie …«
»Und da hast du dich verirrt. Armes Ding.« Agnes sah erleichtert auf, als ihr Gatte den Raum betrat.
»Du hast recht, die Kleine ist schwachsinnig, en effet. « Angespannt hob sie den Kopf und lauschte. Im Nebenzimmer weinte ein Kind.
Schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen, weil sie sich viel zu schnell erhob, um nach dem kleinen Wilhelm zu sehen. Doch Agnes versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Ihr Junge brauchte sie, und im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen ihres Standes quälte sie der Ehrgeiz, ihn allein zu versorgen. Ohne die Hilfe einer Kinderfrau oder Amme.
»Gib dem Mädchen ein paar Taler als Dank für seine Hilfe, und bring sie zu ihrer Familie zurück.« Die Arroganz, die in ihrem Tonfall lag, schmerzte Maribel.
»Ich werde sehen, was ich tun kann, meine Liebe.« Friedrich geleitete seine Frau zur Tür. Ihre körperliche Schwäche entging ihm nicht.
»Umso eher kehrt Ruhe auf dem Hof ein.« Agnes drückte beim Hinausgehen seine Hand. Für Maribel hatte sie keinen Blick übrig.
Eine Weile herrschte Schweigen, nachdem sie den Raum verlassen hatte. Friedrich räusperte sich. Er stand in Maribels Schuld und wusste nicht, wie er beginnen sollte.
»Wie ich sehe, geht es dir gut?« Friedrich kämpfte gegen den Drang, die Hände des Mädchens zu ergreifen. Die Strapazen ihrer Haft waren Maribel deutlich anzusehen. Ihr Gesicht wirkte schmaler, der Teint durchsichtig blass. Groß schimmerten die steingrauen Augen in ihren dunklen Höhlen.
»Es geht mir so hervorragend, wie es einem nach drei Tagen Einzelhaft nur gehen kann.« Sie lächelte ironisch.
»Die letzten Tage waren für dich nicht angenehm, doch mir blieb keine Wahl, das weißt du doch?«
»Ich bedauere, aber mir sind Ihre Gebräuche hier nicht vertraut. Genau genommen interessieren sie mich auch nicht. Der Schweinejunge tat mir einfach bloß leid ohne seine Schuhe.«
»Er hat durch seinen Fehler gelernt.«
»Eine tolle Erziehung ist das. Bevor Sie einmal Mitleid zeigen, nehmen Sie lieber in Kauf, dass dem Kind die Füße abfrieren. Hoffentlich erziehen Sie Ihren Sohn nicht genauso.«
»Du gehst zu weit.« Seine Finger pressten sich schmerzhaft in das weiche Fleisch ihres Oberarmes. Plötzlich schwebten seine Lippen dicht über ihrem Mund.
Maribel hatte sich fest vorgenommen, auf ein Zeichen von Friedrich zu warten. Sie wollte es ihm überlassen, sich als Boris zu erkennen zu geben. Nun schien der Moment gekommen.
Einen Moment lang sahen sie sich nur an.
Verwirrt. Fragend.
Mit klopfendem Herzen sehnte Maribel seinen Kuss herbei. Nur einen ganz kleinen. Wenn es sein musste, einen Abschiedskuss.
Zu ihrer Enttäuschung ließ Friedrich die Gelegenheit verstreichen. Langsam lockerte er den Griff um ihren Arm.
»Meine Frau …« Hilflos zuckte er die Achseln.
»Maribel lächelte traurig. »Sie sieht noch sehr blass aus.«
Friedrich brauchte ihr nichts zu erklären. Sie begriff auch so, dass es im neunzehnten Jahrhundert keinen gemeinsamen Weg für sie beide gab.
»Es tut mir leid«, sagte er.
Maribel nickte stumm.
Liebe, die sogar die Zeit überwand – sie war eben doch bloß ein Märchen.
»Kann ich etwas für dich tun?«, fragte er.
»Danke. Aber ich komm schon zurecht.« Tapfer schluckte sie an dem dicken Tränenkloß in ihrer Kehle, als sie langsam rückwärts zur Tür ging.
»Die Geburt hat meine Frau sehr geschwächt …«
Maribel würde nie von ihm verlangen, dass er Agnes verließ. Er sollte nur aufhören, sich dafür zu entschuldigen. Eisern wahrte sie die Form.
»Meine Großmutter hat immer warmen Rotwein mit Ei getrunken, wenn sie sich krank fühlte.
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