Verlieb dich nie nach Mitternacht
seinem Misstrauen keinen Zweifel. »Gebt ihr ein paar saubere Decken und etwas zu essen und sperrt sie in eine der Zellen«, befahl er auf Französisch. »Ich entscheide morgen früh, was mit ihr geschieht.
Die Nachricht von Blüchers Rheinüberquerung beunruhigte den Lieutenant. Er hatte Befehl erhalten, sich den verbündeten Truppen mit allen Männern, die er aufbieten konnte, entgegenzustellen. Doch es waren ihm kaum noch welche übrig geblieben, nachdem vor wenigen Tagen erst Nachschub für die kämpfenden Truppen angefordert worden war. Sollte der Feind Ernst machen und in großer Truppenstärke über den Rhein vorrücken, dann blieben ihm im Grunde genommen nur zwei Möglichkeiten: die kampflose Übergabe oder die Flucht. Noch hatte er sich nicht entschieden, welche für seine Männer und ihn die bessere von beiden war.
Die Inhaftierung des Mädchens hingegen war nicht mehr als eine Bagatelle. Er wartete, bis Maribel, die vor Erschöpfung kaum noch gehen konnte, in ihrer Zelle war. Dann erst wandte er sich an den jungen Soldaten, der sie hergebracht hatte. »Ich hoffe, du bist der jungen Dame nicht zu nahe gekommen. Das arme Ding soll bereits mehrere Männer auf dem Gewissen haben. Du verstehst?«
Der Junge verstand. Vor solchen Frauen hatte seine Mutter ihn gewarnt, bevor er in den Krieg zog. Nicht klar hingegen war ihm, ob Syphilis auch durch Stoffbahnen hindurch ansteckend war. Darüber grübelte er während einer schrecklichen, schlaflosen Nacht nach.
XVIII
Der nebelhafte Schleier lichtete sich. Maribel erkannte eine Frau, die sich über sie beugte und ihr mit einem weichen Tuch den Schweiß von der Stirn abtupfte. Die Frau sagte etwas zu ihr, doch die Worte drangen nicht in ihr Bewusstsein. Hinter ihren Schläfen hämmerte der Schmerz. Gerne wäre sie deshalb einfach nur still liegen geblieben – so lange, bis sich die Quälgeister in ihrem Kopf beruhigten. Doch ein Husten, der ihr die Brust zu zerreißen drohte, zwang sie immer wieder, sich zu bewegen. Trotz der vielen wollenen Decken, die man über sie gebreitet hatte, zitterte sie noch immer heftig. Dieses Mal nicht vor Kälte. Ihr Körper glühte vor Hitze. Die feuchten Essigwickel, die die Frau ihr anlegte, schienen zu verdampfen, sobald sie ihre Haut berührten.
Der befehlshabende Lieutenant hatte am Morgen nach Maribel gesehen und sie fiebernd vorgefunden. Er bat Anna Kamp, eine der Frauen, die sonst die Räume der Gendarmerie sauber hielten und für warmes Essen und Trinken sorgten, um Hilfe. Zu seiner Verwunderung kannte Anna die Schwachsinnige vom Isselshof nicht, hatte weder von ihr gehört noch sie jemals gesehen. Obwohl doch in den ländlichen Gebieten jeder jeden kannte. Ihm fehlte die Zeit, um darüber Mutmaßungen anzustellen. Stattdessen dachte er daran, eventuell einen Boten zum Isselshof zu senden, um wenigstens den Gutsherrn Friedrich von Leyen über den Verbleib seiner Magd zu unterrichten. Doch dann trafen neue Befehle seines Capitaines ein, und er vergaß es wieder. Er hätte ohnehin keinen seiner Männer für die Aufgaben entbehren können.
*
»Ich kann nicht fassen, dass der Herr niemanden schickt, um nach Maribel zu suchen.« Lisette knabberte an einer dicken Haarsträhne. Grete, die es bemerkte, schlug ihr mit dem Kochlöffel auf die Finger.
»Au!«
»Geschieht dir recht!« Geschickt zog Grete einen großen Topf Erbsensuppe von der heißen Platte. Letzte Nacht hatte sie geträumt, Michel würde den Krieg gesund überstehen und wohlbehalten zu ihr zurückkehren. Deshalb fühlte sie sich ausgeglichener als an den Tagen zuvor. »Wen hätte er schicken sollen?«
Lisette zuckte mit den Achseln. In der Tat waren in den letzten Tagen alle damit beschäftigt gewesen, die Wirtschaftsgebäude und das Herrenhaus so gut wie möglich gegen ihre Befreier zu sichern. Die Hälfte der Vorräte war in die Verstecke gebracht worden, in denen schon die englische Schmuggelware lagerte. Die Menschen am Niederrhein kannten sich mit Besatzungen aus. Jede neue Armee, die durch das Land zog, benötigte neue Vorräte und Kleidung. Wer am Ende nicht selbst mit leeren Händen dastehen wollte, sorgte vor.
Für die Dauer einer möglichen Besatzung ordnete Friedrich an, dass alle Bediensteten zur Herrschaft ins Haupthaus zogen. Auf diese Weise versuchte er vor allem, die Frauen vor einer möglichen Vergewaltigung zu schützen. Wie man hörte, rückten die preußische und die russische Armee gemeinsam vor. War im Krieg zwar jeder Soldat
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