Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
ihr trotzen will. Wo er die Konvention, die Forderungen
von Familie, Staat, Gemeinschaft in den Wind schlägt, muß er es tun mit dem Wissen darum, daß es auf seine eigene Gefahr geschieht. Wieviel Gefahr
einer auf sich zu nehmen fähig ist, dafür gibt es keinen objektiven Maßstab. Man muß jedes Zuviel, jedes Überschreiten des eigenen Maßes büßen,
man darf ungestraft weder im Eigensinn noch im Anpassen zu weit gehen.
Aus einem Brief vom 10. Februar 1956
S ie sollten nicht fragen: »Ist meine Art und Einstellung dem Leben gegenüber die richtige?« – denn darauf gibt es keine Antwort: jede Art ist ebenso richtig wie jede andre Art, jede ist ein Stück Leben. Sie sollten vielmehr fragen: »Da ich nun einmal so bin wie ich bin, da ich diese Bedürfnisse und Probleme in mir habe, die so vielen andern scheinbar ganz erspart bleiben – was muß ich tun, um dennoch das Leben zu ertragen und womöglich etwas Schönes aus ihm zu machen?« Und die Antwort darauf wird, wenn Sie wirklich auf die innerste Stimme hören, etwa so sein: »Da du nun einmal so bist, solltest du andre wegen ihres Andersseins weder beneiden noch verachten, und sollst nicht nach der ›Richtigkeit‹ deines Wesens fragen, sondern sollst deine Seele und ihre Bedürfnisse ebenso hinnehmen wie deinen Körper, deinen Namen, deine Herkunft etc.: als etwas Gegebenes, Unentrinnbares, wozu man Ja sagen und wofür man einstehen muß, und wenn auch die ganze Welt dagegen wäre.«
Mehr weiß ich nicht. Ich kenne keine Weisheit, die mir das Leben erleichtern würde. Das Leben ist nicht leicht, nie, aber danach, ob es leicht sei oder nicht, haben wir gar nicht zu fragen. Wir müssen entweder am Leben verzweifeln, das steht jedem frei, oder wir müssen es ebenso machen wie die scheinbar Gesunden und Tüchtigen, die scheinbar Problem- und Seelenlosen: wir müssen versuchen, unsre Natur als das einzig Richtige zu nehmen, unsrer Seele alle Rechte zuzugestehn.
Ich gebe da Ratschläge und glaube doch eigentlich nicht an ihren Wert. Sie werden davon so viel in sich einlassen, als Ihre Natur erlaubt, nicht mehr noch weniger. Wir können uns nicht ändern. Aber wir sind um so stärker, je mehr wir das Leben anerkennen, je mehr wir im Innersten mit dem einig sind, was uns von außen geschieht.
Aus einem Brief vom 21. Juli 1930
F ür die Menschheit als Masse besteht die Aufgabe des Lebens nur in der möglichst reibungslosen Eingliederung und Anpassung, im Herabschrauben der persönlichen Verantwortlichkeit auf ein Minimum.
Wir anderen, die stets kleine Zahl der zu einem persönlichen, individuellen Leben Befähigten und Berufenen, haben vor der Masse die zarteren Sinne und die größere Denkfähigkeit voraus, und diese Gaben können uns sehr viel Glück verschaffen. Wir sehen, hören, fühlen, denken genauer, empfänglicher, reicher an Nuancen, aber wir sind auch einsam und gefährdet, wir müssen auf das Glück der verantwortungslosen Masse verzichten. Jeder von uns muß über sich selbst, über seine Gaben, Möglichkeiten und Eigenheiten Klarheit suchen und sein Leben in den Dienst der Vervollkommnung, der Selbstwerdung stellen. Wenn wir das tun, dann dienen wir auch zugleich der Menschheit, denn alle Werte der Kultur (Religion, Kunst, Dichtung, Philosophie etc.) entstehen auf diesem Weg. Auf ihm wird der oft verlästerte »Individualismus« zum Dienst an der Gemeinschaft und verliert das Odium des Egoismus.
Aus einem Brief vom Juli 1961
Trost
W ieviel gelebte Jahre
Sind hin und hatten keinen Sinn,
Nichts, das ich mir bewahre,
Nichts, des ich fröhlich bin.
Unendliche Gestalten
Hat mir der Strom herangerollt;
Ich durfte keine halten,
Es blieb mir keine hold.
Doch ob sie mir entgleiten,
Mein Herz fühlt tief und rätselhaft
Weit über alle Zeiten
Des Lebens Leidenschaft.
Die hat nicht Sinn noch Ziele,
Weiß alles nah und alles weit
Und macht, ein Kind im Spiele,
Den Augenblick zur Ewigkeit.
1908
W as ist groß oder klein, wichtig oder unwichtig? Die Psychiater erklären einen Menschen für gemütskrank, der auf kleine Störungen, kleine Reizungen, kleine Beleidigungen seines Selbstgefühls empfindlich und heftig reagiert, während derselbe Mensch vielleicht Leiden und Erschütterungen gefaßt erträgt, welche der Majorität sehr schlimm erscheinen. Und ein Mensch gilt für gesund und normal, dem man lange auf die Zehen treten kann, ohne daß er es merkt, der die elendeste Musik, die kläglichste Architektur, die verdorbenste Luft
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