Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
klaglos und beschwerdelos erträgt, der aber auf den Tisch haut und den Teufel anruft, sobald er beim Kartenspiel ein bißchen verliert. Ich habe in Wirtshäusern schon sehr häufig Menschen von gutem Ruf, die für durchaus normal und ehrenwert gelten, wegen eines verlorenen Spiels, namentlich wenn sie einem Mitspieler meinten die Schuld am Verlust aufbürden zu müssen, so fanatisch, so grob, so säuisch fluchen und toben sehen und hören, daß ich sehr das Bedürfnis fühlte, beim nächsten Arzt die Internierung dieser Unglücklichen zu beantragen. Es gibt eben vielerlei Maßstäbe, die man alle gelten lassen kann; aber irgendeinen von ihnen, sei es auch der der Wissenschaft oder der der augenblicklichen öffentlichen Moral, für heilig zu halten will mir nicht gelingen . . .
Ebenso wie unterm Mikroskop etwas sonst Unsichtbares oder Häßliches, ein Flöckchen Dreck, zum wunderbaren Sternhimmel werden kann, ebenso würde unterm Mikroskop einer wahrhaften Psychologie (welche noch nicht existiert) jede kleinste Regung einer Seele, sei sie sonst noch so schlecht oder dumm oder verrückt, zum heiligen, andächtigen Schauspiel werden, weil man nichts in ihr sähe als ein Beispiel, ein gleichnishaftes Abbild des Heiligsten, das wir kennen, des Lebens.
Es wäre anmaßend, wenn ich sagen wollte, alle meine literarischen Versuche seit manchen Jahren seien nichts als ein Versuch, ein tastender Versuch nach jenem fernen Ziele hin, eine dünne schwache Vorahnung jener wahren Psychologie mit dem Weltauge, unter deren Blick nichts mehr klein oder dumm oder häßlich oder böse ist, sondern alles heilig und ehrwürdig. Und doch ist es irgendwie so.
Aus »Kurgast«, 1923
M it der Psychoanalyse ist es so eine Sache. Als Methode, theoretisch, ist sie ausgezeichnet, sowohl die
Vereinfachungen, in denen Freud die seelischen Mechanismen darstellt, sind im Prinzip sehr dienlich, um Seelisches erkennen zu lernen, als auch
die Jung’schen Mythologien und Typen-Einteilungen. In der Praxis jedoch ist es ganz anders. Ich habe unter einigen Dutzend Psychoanalytikern, die
ich kennenlernte, keinen einzigen gefunden, der z. B. fähig wäre, das Positive und Wertvolle an mir, oder sagen wir etwa an einem Dichter wie
Rilke, zu sehen, wenn es sich nicht in Form von öffentlicher Anerkennung ausdrückte! Angenommen, ein guter heutiger Psychoanalytiker würde mich zu
begutachten haben, er würde alles Material meines Lebens kennen, er würde auch alle meine Werke kennen, aber er wüßte nicht, daß diese Werke
zufällig vielgelesen sind, daß sie Geld und Ruhm einbringen – so würde er mich für einen zwar gewiß begabten, aber ziemlich hoffnungslosen
Neurotiker einschätzen. Denn die Produktivität an sich, das Schöpferische, ist ein Wert, den heutige Durchschnittsmenschen (und sie geben ja für
den Arzt das Maß der Normalität) überhaupt nicht zu erkennen und einzuschätzen verstehen. Für sie wären Novalis, Hölderlin, Lenau, Beethoven,
Nietzsche sämtlich nichts als schwer pathologische Erscheinungen; denn die absolut bürgerlichmoderne, flache Einstellung der Psychoanalyse (Freud
nicht ausgenommen) erlaubt ihr das Erkennen und Bewerten des Schöpferischen nicht. Darum auch hat die gesamte, riesige Literatur der
Psychoanalytiker über Dichter keine einzige wirklich bedeutsame Leistung gebracht. Sie haben gefunden, daß Schiller an verdrängten Mordwünschen
gegen den Vater litt, und daß Goethe gewisse Komplexe hatte, weiter nichts. Daß diese Männer aus ihren Komplexen eine Welt geschaffen haben, würde
die Analyse gar nicht merken, wenn sie die Werke dieser Dichter ohne Kenntnis ihrer Namen und ihres Ruhmes läse. Auch dafür, daß jede kulturelle Leistung aus Komplexen kommt, daß Kultur überhaupt nichts andres ist als ein Einschalten von Widerständen und Reibungsgelegenheiten
zwischen Trieb und Geist, und daß Leistungen nicht dort entstehen, wo Komplexe »geheilt« werden, sondern wo ihre Hochspannungen sich schöpferisch
erfüllen, von alledem weiß die Analyse so wenig wie die moderne Wissenschaft überhaupt. Wie sollte sie auch. Der Zweck der Medizin, inklusive
Analyse, ist ja nicht die Erkenntnis des Genies und der Tragik des Geistes, sondern ihr Zweck ist zu bewirken, daß die Patientin Meyer womöglich
ihr Asthma oder ihre nervösen Magengeschichten verliert. Der Geist läuft wahrlich auf anderen Pfaden, nicht auf diesen.
Aus einem Brief vom 3. Juli 1928
I ch mache ruhig vom
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