Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Gedanken, die gar nicht seine sind, und seht das an ihm nicht, weswegen er gelebt und sich bemüht hat. Ihr seid mit allem schnell fertig, mit den Religionen und Weltanschauungen treibt Ihr großen und raschen Verbrauch, Buddha oder Nietzsche sind Euch gerade recht, um ihnen nach flüchtigem Lesen eine Zensur zu geben. Ich halte, muß ich sagen, nicht das mindeste von dieser Art. Ihr habt für ein Ruder- oder Schwimmtraining das Hundertfache an Sorgfalt, Hingabe und Fleiß übrig wie für Geistiges. Gut, aber dann bleibt beim Sport, und laßt das Geistige.
Ihr seid voll Streben, Ihr habt viel Sehnsucht, Ihr habt viel dunklen Trieb, der sich irgendwie sublimieren möchte. Was Ihr nicht habt, ist Ehrfurcht . Ihr könnt nichts dafür. Aber ohne Ehrfurcht ist aller Geist böser Geist, und die Gläubigkeit, mit der ein guter dummer amerikanischer Boy seine Rudervorschriften etc. verehrt, ist fruchtbarer als die distanzlose, ehrfurchtslose Blasiertheit und der böse Nihilismus, mit dem Ihr alles Geistige an Euch reißt und sofort wieder wegwerft. Ich halte nichts davon.
Das furchtbare Durcheinander unserer Zeit wird auch von uns Alten erlitten, nicht bloß von Euch Jungen, und auch wir Alten können ohne Mühe feststellen, daß das Menschenleben eine anrüchige und zweifelhafte Sache ist. Wir (das heißt ich spreche eigentlich bloß von mir, nehme aber an, es gebe in meiner Generation noch andere meiner Art) versuchen, uns diese Verzweiflung klar und bewußt zu machen . . . wir versuchen aber auch, diesem anscheinend sinnlos grausamen Leben dennoch einen Sinn zu geben, es dennoch auf etwas Überzeitliches und Überpersönliches zu beziehen . . . Und so steht mein ganzes Leben im Zeichen eines Versuchs zu Bindung und Hingabe, zu Religion. Ich bilde mir nicht ein, für mich oder gar für andere so etwas wie eine neue Religion, eine neue Formulierung und Bindungsmöglichkeit finden zu können, aber auf meinem Posten zu bleiben und, auch wenn ich an meiner Zeit und an mir selbst verzweifeln muß, dennoch die Ehrfurcht vor dem Leben und vor der Möglichkeit seines Sinnes nicht wegzuwerfen, auch wenn ich damit alleinstehen sollte, auch wenn ich damit sehr lächerlich werde – daran halte ich fest. Ich tue es nicht aus irgend einer Hoffnung, daß damit für die Welt oder für mich irgend etwas besser würde, ich tue es einfach, weil ich ohne irgend eine Ehrfurcht, ohne Hingabe an einen Gott nicht leben mag.
Was sagen Sie denn zum Beispiel damit, wenn Sie das Leben ein großes Paradoxon nennen, weil Reaktion und Revolution, Tag und Nacht einander immer ablösen, weil immer zwei Prinzipen da sind, und immer alle beide recht haben oder keines? Sie sagen damit nur, daß das Leben Ihrem Verstand unerklärbar ist, daß es offenbar nach andern Prinzipien als denen des menschlichen Verstandes sich vollzieht. Man kann daraus die Folge ziehen, daß man auf das Leben spuckt, oder die andere, daß man dem Unerkennbaren nicht die Skepsis des enttäuschten Verstandes, sondern die Ehrfurcht entgegensetzt, daß man statt eines dummen Paradoxons ein wunderbares Schwingen zwischen vielen Paaren von Polen und Gegenpolen sieht. . . .
Ich kann Ihnen keine Fragen beantworten, ich kann meine eigenen Fragen nicht beantworten, ich stehe ebenso ratlos und ebenso bedrückt vor der Grausamkeit des Lebens wie Sie. Dennoch habe ich den Glauben, daß die Sinnlosigkeit überwindbar sei, indem ich immer wieder meinem Leben doch einen Sinn setze. Ich glaube, daß ich für die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit des Lebens nicht verantwortlich bin, daß ich aber dafür verantwortlich bin, was ich selber mit meinem eigenen, einmaligen Leben anfange. Mir scheint, Ihr Jungen habt sehr viel Lust, diese Verantwortlichkeit wegzuwerfen. Dort trennen wir uns.
Aus einem Brief vom 15. Juli 1930
D ie Dichter, wenn sie Romane schreiben, pflegen so zu tun, als seien sie Gott und könnten irgendeine Menschengeschichte ganz und gar überblicken und begreifen und sie so darstellen, wie wenn Gott sie sich selber erzählte, ohne alle Schleier, überall wesentlich. Das kann ich nicht, so wenig wie die Dichter es können. Meine Geschichte aber ist mir wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie ist die Geschichte eines Menschen – nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen. Was das ist, ein wirklich lebender Mensch, das weiß man heute
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