Verliebt in Hollyhill: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
anderes spürte als ihre eigene Angst, überhaupt nichts. Sie starrte auf Millys Kopf, der sich mühsam über Wasser hielt, und begann zu schwimmen, während sie gleichzeitig schrie: »Milly! Bleib still, hörst du! Mary wird nichts geschehen. Dreh dich nicht um, bleib einfach, wo du bist, ich hole dich. Warte!«
Sie schwamm. Vier, fünf Züge noch, dann würde sie Milly erreicht haben, sechs vielleicht, höchstens sieben, aber da drehte die Kleine ihr Gesicht zu Emily, sie drehte sich, sah Emily an mit weit aufgerissenen Augen und verschwand im Wasser. Und tauchte nicht wieder auf.
Für den Bruchteil einer Sekunde hielt Emily ganz still. Dann strampelte sie los, Wasser spritzte, in ihre Nase, ihre Augen, ihren Mund, weil sie schrie, während sie schwamm, lauter und verzweifelter. Wie durch zerbrochenes Glas sah sie eine Bewegung in der Ferne, Marys Boot, das sich drehte, und Mary, die offenbar in ihre Richtung ruderte. Emily war es egal. An der Stelle, an der Milly untergegangen war, holte sie Luft und tauchte unter die Oberfläche.
Sie sah nichts. Nichts als Dunkelheit. Sie glaubte, dies müsse die Stelle gewesen sein, aber sie sah absolut gar nichts, deshalb … Vielleicht war es auch … weiter links … weiter …
Emily tauchte auf, holte Luft, tauchte wieder unter. Sie bewegte sich in diese Richtung, in jene, aber sie sah nur Wasser, sonst nichts. Sie tauchte wieder auf, schnappte nach Luft, tauchte wieder unter. Ihr Kopf waberte durch Hunderte von Luftblasen, die sie selbst ausstieß, und in ihren Ohren dröhnte der Wasserdruck. Alles war dunkelgrau um sie herum. Und zu der Panik, sie könnte Milly nicht rechtzeitig finden, nicht rechtzeitig an die Wasseroberfläche ziehen, gesellte sich nun noch die Furcht vor der Tiefe – vor dem, was unter ihr war, neben ihr, hinter ihr.
Abermals tauchte sie auf und schnappte nach Luft. Wie lange war Milly schon da unten? Sie wusste es nicht. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Die Tränen, die die Angst vorübergehend zurückgedrängt hatte, quollen ihr nun unaufhaltsam aus den Augen und vermischten sich mit dem Seewasser auf ihren Wangen. Sie öffnete den Mund und wollte eben ein weiteres Mal Luft holen, als jemand sie an der Schulter packte.
»Schwimm zurück!«, fuhr Cullum sie an. »Du wirst erfrieren.« Er war atemlos und vermutlich deshalb so kurz angebunden, doch bevor Emily ein Wort sagen konnte, war er schon neben ihr in den Tiefen des Sees verschwunden.
Emily rührte sich nicht.
Wenn nicht gerade jemand strampelte und prustete und japste, so wie sie selbst, lag wieder diese unwirkliche Stille über dem See. Umso heftiger ließen sie Marys Stimme und das Platschen ihres Ruders zusammenzucken.
»Was ist hier los?«, kreischte sie. Das kleine weiße Boot, das sie steuerte, ruckelte und schaukelte. Emily warf einen kurzen Blick auf die Schwester, die im Morgenrock und mit Nachthaube, mit zerzaustem Zopf und irrem Blick wie eine Furie aussah, und konzentrierte sich dann wieder auf die Wasseroberfläche vor ihr. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es konnten Stunden vergangen sein, seit sie das letzte Mal Millys Gesicht gesehen hatte, Stunden, Minuten oder Sekunden.
Mary zeterte: »Wieso hast du Milly ins Wasser gehen lassen?«
Emily versteifte sich. Es sah nicht so aus, als könnte Mary das Boot sonderlich gut lenken. Es war schon fast an ihr vorbei. »Fahren Sie zurück ans Ufer«, flüsterte Emily kaum hörbar. »Es gibt hier nichts für Sie zu tun.«
In diesem Moment tauchte Cullum auf, er spuckte Wasser und keuchte, aber er hielt Milly im Arm und ihren Kopf über Wasser.
»Jesus, Emily«, japste er.
Emily starrte auf Millys reglosen Körper; ihr Kopf, die Augen geschlossen, auf Cullums Schulter.
Sie ist tot.
Mehr konnte Emily nicht denken.
Cullum schwamm mit Milly erst an ihr vorbei dann an Mary, die versteinert auf ihrem Boot-Bänkchen thronte. »Was ist mit ihr?«, rief sie schrill. »Es geht ihr gut, oder?«
Er antwortete nicht. Emily schloss die Augen. Wie betäubt bahnte sie sich ihren Weg durchs Wasser, wie in Trance folgte sie Cullum an den steinigen Uferstrand.
Er hob Milly aus dem Wasser, legte sie auf das Kiesbett und zögerte keine Sekunde, bevor er ihre Nase zuhielt, seine Lippen auf ihre legte und Sauerstoff in ihre Lungen pustete. Er wiederholte es dreimal, dann begann er, Millys kleines Herz zu massieren.
Emily kauerte neben ihm auf den nassen, kalten Steinen, auf allen vieren, die Wangen voller Tränen.
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