Verliebt, verlobt und eingesargt
mein Kleiner. Ich bin Liliane Parker…«
***
Eigentlich hätte Walter schreien wollen, doch auch die Kehle war wie zugefroren. Er brachte keinen Laut heraus, statt dessen legte sich eine noch dickere Gänsehaut auf seinen Rücken. Mit offenem Mund stand er da, lauschte dem Klang der Stimme nach und schwieg, und sie meldete sich auch nicht auf erneutes Nachfragen.
Er holte tief Luft. »Melde dich doch!« brachte er krächzend hervor.
»Verdammt, sag etwas…«
»Komm her…«
Walter zuckte zusammen, als er die neuerliche Antwort vernahm. Er drehte sich um, aber auch jetzt konnte er niemanden entdecken. »Wo steckst du denn?«
»Komm zu mir, Walter.«
Kissner fing an zu grinsen. Er dachte jetzt an einen Scherz, den sich seine Verlobte mit ihm erlaubte. »Okay, Mädchen, okay, du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt ist Schluß. Zeige dich, dann gehen wir zu unserem Wagen und fahren zu mir.«
»Ich bin nicht Susy.«
»Wer dann?«
Die Stimme redete im gleichen Tonfall weiter. »Ich bin Liliane, die Mutter.«
»Die Tote?« krächzte er.
»Genau die.«
Das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Im hellen Sonnenschein hätte er es vielleicht geschafft, aber nicht in dieser düsteren Atmosphäre, die an Unheimlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig ließ. Sie war aufgeladen mit Angst und Furcht, etwas Böses hatte sich etabliert und streckte seine unsichtbaren Krallenfinger aus. Er beschloß, das Spiel mitzumachen.
»Bist du aus dem Grab geklettert, Liliane?«
»Nicht ganz.«
»Aber du bist da?«
»Ja«, antwortete die hohle Stimme. »Und ich habe dir etwas mitgebracht. Schau nach vorn.«
Noch während die Worte gesprochen wurden, hörte Walter ein schabendes Geräusch in Bodenhöhe. Etwas kratzte über den Grund, gleichzeitig erklang das Brechen von Zweigen, dann erschien ein langgestreckter Gegenstand neben einem Walter gegenüberstehenden Grabstein. Der Gegenstand wurde weitergeschoben, und der Mann konnte nicht erkennen, wer sich dafür verantwortlich zeigte, weil die Person durch eine Hecke zu gut abgeschirmt wurde. Aber er erkannte ihn. Es war ein Sarg…
Für einen Moment schien sein Herz nicht mehr schlagen zu wollen. Walter stellte sich auf die Zehenspitzen, starrte den schwarzen Sarg an und bekam noch mehr Angst.
»Er ist für dich, mein kleiner Freund. Verliebt, verlobt und eingesargt, so soll es sein…«
Walter konnte wieder sprechen. »Verrückt«, flüsterte er, »das ist doch Wahnsinn.«
»Nein, das ist es nicht. Du träumst nicht, Walter. Du befindest dich in der Realität. Ich, die Mutter spreche mit dir. Ja, ich eine Tote. Und der Sarg ist für dich.«
Für einen Moment schloß er die Augen. Er hatte die Worte genau gehört und dachte darüber nach. Wer in einen Sarg-gelegt wurde, der war tot. Er würde auch tot sein, wenn jemand den Deckel hochklappte, um ihn in die Totenkiste zu drücken.
»Für dich…«
Wieder hörte er die beiden Worte, aber diesmal waren sie hinter ihm aufgeklungen.
Die Panik sprang ihn an, er drehte sich um - und erstarrte vor Schrecken.
Vor ihm stand die Gestalt. Direkt auf dem Grab, und sie wurde vom Schein des Totenlichts umflort.
Ein Mensch? Ein Monster? Susy oder ihre Mutter?
Ein furchtbares Geräusch drang ihm entgegen. Ein Schreien und gleichzeitiges Ächzen, vermischt mit einem tiefen Stöhnen. Und dann sah er etwas in ihrer Hand.
Es war länglich, blitzte und jagte auf ihn zu - und… Feuer breitete sich in seinem Bauch aus. Feuer, vermischt mit Blut, das aus der Wunde rann. Es war furchtbar. Er konnte sich zwar noch auf den Beinen halten, aber er taumelte gebückt zurück und sah alles wie durch einen Schleier.
Die Perspektiven verzerrten sich. Walter Kissner wußte nicht, ob er die Realität erlebte oder sich die Bilder vor ihm nur aus Erinnerungen zusammensetzten.
Einmal sah er die strahlende Schönheit seiner Vei lobten, dann wieder eine furchtbare Gestalt, die nur aus Schlamm-und Hautfetzen sowie Blut zu bestehen schien.
Mensch, Monster, ein sternenklarer Himmel, der sich plötzlich wie ein Kreisel drehte.
Es war nicht der Himmel, der so rotierte. Walter war schwindlig geworden. Er hatte nicht einmal mitbekommen, daß er gefallen war und nun auf dem Rücken lag.
Aus seinem Körper rann das Leben.
Das letzte, was er noch wahrnahm, war die Hand, die in seinem Blickfeld erschien. Eine schöne, gepflegte Hand, die er so gemocht hatte, weil sie Susy gehörte.
Sie hielt etwas zwischen den Fingern, das sie nun fallen ließ. Ein kleines Schild.
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