Verliebt, verlobt, verflucht
ihr mittlerweile vertraute Zimmer. Natalie seufzte. Jedes Mal, wenn sie das Büro betrat, übermannte sie der modrige Geruch von alten Büchern. Die abgestandene Luft sorgte dafür, dass sie nur langsam denken konnte.
Das Büro erinnerte mehr an eine Bibliothek. Bücherregale bedeckten die Wände und ragten in den Raum hinein, sodass sie fast ein Labyrinth bildeten. Inmitten des Bücherdschungels stand ein riesiger Schreibtisch, dahinter ein gemütlicher Ohrensessel. Prof. Marzin wies Natalie an, auf dem wackeligen Besucherstuhl Platz zu nehmen. Obwohl es bitterkalt war, machte der Professor kein Feuer an, sein Kamin war sogar versiegelt, und statt einer Kerze spendete eine stinkende Öllampe spärliches Licht.
Natalie setzte sich artig hin und musterte den verhassten Geschichtslehrer, der ihr fest in die Augen sah.
»Kannst du erahnen, warum du hier bist?«
»Weil ich angeblich Unruhe gestiftet habe«, antwortete Natalie. »Dabei hat Ariane angefangen! Sie hat Gingin ein Elbenohr gen-«
»Nein, das ist nicht der eigentliche Grund.«
Natalie war verwirrt. Warum sonst rief er sie in sein Büro? Oh nein, lag es etwa an dem Vorfall mit dem Spickspiegel? Natalie seufzte. Das fehlte ihr gerade noch.
Professor Marzin zog ein Blatt aus einer Schublade hervor und zeigte es Natalie. Es war ihr Geschichtstest von gestern. Eine rote Zwei prangerte in der rechten Ecke. Natalie schluckte.
»Ehrlich, Professor Marzin, der Spiegel diente mir nur für die Überprüfung meiner ... meiner Sommersprossen!«, versuchte sich Natalie zu verteidigen.
Der Mundwinkel von Professor Marzin zuckte nur belustigt. »Du liegst falsch, deswegen bist du nicht in meinem Büro. Auch wenn ich große Lust hätte, dir dafür einen Verweis zu verpassen!« Professor Marzin blickte Natalie aus seinen Adleraugen streng an und fuhr schließlich fort: »Du bist hier, weil du über etwas geschrieben hast, das du eigentlich nicht wissen kannst. Ich spreche von folgender Frage:
Warum wurde die Stadtmauer vor 400 Jahren erhöht und zu welchem Zweck erfolgte dies?
Deine Antwort lautete:
Im 4. Jahrhundert drangen Spione aus dem Reich der Hochelben ein und stahlen etwas von unschätzbarem Wert. Damit dies nicht noch einmal geschieht, wurde die Mauer erhöht. "
Der Professor sah Natalie erwartungsvoll an.
»Ja ich weiß, die Antwort stand bestimmt nicht so im Geschichtsbuch, aber mein Opa hat mir immer von dieser Sage erzählt.«
»Sie steht deshalb nicht im Geschichtsbuch, weil gewöhnliche Bewohner Peretruas ihren wahren Kern nie erfahren dürfen«, sagte der Geschichtslehrer und seine kühle Fassade bröckelte merklich. Angstschweiß bildete sich auf seiner Stirn, seine Mundwinkel zitterten und in seinen Augen spiegelte sich die blanke Furcht.
»Ich verstehe wieder nicht«, bemerkte Natalie stirnrunzelnd und begann ungeduldig mit dem Fuß zu wippen. Worauf wollte der Professor nur hinaus?
Zur Antwort betätigte er ein kleines Glöckchen. Auf den leisen, aber dennoch durchdringenden Ton folgte ein langsames Schlurfen und zwischen den Regalen erschien eine bucklige Gestalt. Ein Kobold. Sein braunes Fell war an vielen Stellen schon ergraut, die spitzen, rosafarbenen Ohren standen von seinem pelzigen Kopf ab und seine wässrigen, kugelrunden Augen taxierten Natalie mit unverhohlener Neugierde. Sein abgenutzter brauner Frack war mit unzähligen Stoffflicken übersät, offenbar hielt es Professor Marzin nicht für nötig, seinem Kobold einen neuen Frack zu kaufen.
»Der Bücherschlund«, rief Natalie erfreut aus. Den Namen hatten ihm die Schüler verpasst, weil er in ihren Augen wohl jedes Buch der Schulbibliothek, für die er die Aufsicht hatte, gierig verschlungen hatte. Er hegte und pflegte seine Bücher, befreite sie von Staub und streichelte liebkosend über ihre Umschläge. Oft hatten Natalie und Gingin ihn erwischt, wie er gerade halblaut aus Büchern zitierte oder sich selbst Fragen stellte. Meist war er schlechter Laune, die sich sogar noch steigerte, wenn Schüler in den Pausen mit ihren von den Butterbroten verschmierten Fingern in seinen Büchern blättern wollten. Da gab er ihnen lieber selbst Auskunft, und die Schüler staunten immer wieder über sein geballtes Wissen. Hatte die Schulbibliothek geschlossen, umsorgte er die Buchsammlung Professor Marzins. Doch das war das erste Mal, dass Natalie ihn hier antraf, und das, obwohl ihre Sitzungen mit Professor Marzin beinahe zur wöchentlichen Routine geworden waren.
»Ihr habt mich gerufen,
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