Verliebt, verlobt, verflucht
blauer Fliegenschiss aussahen. Was auch immer sie darstellten, es war dem Professor wichtig genug, das Blatt heimlich in seiner Sanduhr aufzubewahren, dachte sie gespannt.
»Sie brauchen bestimmt die Lupe, Professor«, sagte der Kobold geflissentlich. Natalie zuckte zusammen, sie hatte gar nicht bemerkt, dass sich der Bücherschlund wieder zu ihnen gesellt hatte. Aus seiner ausgebeulten Hosentasche zog er eine dicke, goldene Lupe und überreichte sie mit seinen pelzigen Fingern dem Professor, der sie ohne ein Wort des Dankes an Natalie weitergab. »Vielleicht kannst du dir nun denken, warum ich bei deiner Antwort stutzig wurde.«
Durch die Lupe erkannte Natalie einen fein gezeichneten Ahnenbaum. Die Lupe muss eine außerordentlich starke vergrößernde Wirkung haben, dachte Natalie voller Staunen, als sie die Punkte, die sie irrtümlich für Fliegenschiss gehalten hatte, als Stammbaum erkannte.
Auf die Spitze war eine Krone gezeichnet, deren feine Linie sich in Tulpenranken nach unten zog. Neben der Königslinie waren elf weitere Blütenlinien gezeichnet, deren Nachkommen ebenfalls ein Gewirr aus Namen und Verästelungen nach sich zogen.
»Fragst du dich gerade, wer diesen Ahnenbaum verfasst hat?«, fragte der Geschichtslehrer Natalie freundlich.
»Allerdings«, antwortete Natalie aufgeregt. »Erst dachte ich, die Punkte wären blauer Fliegenschiss, aber jetzt stellen sie sich ja als kleines Kunstwerk heraus. Wahnsinn, wer kann nur so eine kleine Schrift haben?«
Das Gesicht des bis eben noch wohl gesonnenen Professors veränderte sich, mit einem verbissenen Lächeln presste er hervor: »Wenn du den Text vorher aufmerksam gelesen hättest, dann wüsstest du ...«
»Ach so, eine Blaue Elfe hat ihn verfasst«, unterbrach ihn Natalie und klatschte sich an die Stirn.
»Ja, du hast es erfasst«, antwortete er kühl. Ungewohnt geduldig fügte er hinzu: »Elfen haben besonders gute Augen und benötigen keine Lupe, sie können in so einer winzigen, für das menschliche Auge kaum lesbaren Schrift Texte verfassen. Sie benutzen dabei ihr eigenes Blut.«
Natalie schauderte. Natürlich wusste sie, dass Elfen falsch gesetzte Tinte mit ihren Füßen in ihr Blut aufnehmen konnten. Doch dass sie mit ihrem eigenen Blut auch schrieben? Das was mehr als gruselig!
Der Professor biss sich wieder auf die Lippen und atmete tief durch: »Man merkt, du hast auch in Biologie nur vor dich hin geträumt. Die Blauen Elfen können die eingesaugte, gewöhnliche Tinte speichern. Sie können die gespeicherte Tinte jedoch auch mit ihren Fingern auf ein Blatt Papier malen. Das Besondere daran ist, dass die Tinte danach unzerstörbar ist, kein Feuer und kein Wasser kann ihr etwas anhaben. Dieses Ahnenbild hat übrigens Warenis gezeichnet.«
»Was, echt?« Natalie konnte sich lebhaft vorstellen, wie die kleine vergnügte Elfe die Buchstaben kritzelte und verfolgte noch einmal aufmerksam die verzweigten und ineinander verwobenen Linien. Die Gründungsmitglieder hatten selbst untereinander geheiratet, genau wie ihre Nachkommen.
»Hat denn niemand aus dem Geheimbund jemanden geheiratet, der nicht dazugehörte?«, fragte Natalie, während sie mit der Lupe über dem kleinen Zettel kreiste.
»Nein«, antwortete der Professor, nicht ohne Stolz. »Wir hielten es für das Beste, das Erbe Peretruas nicht für das gewöhnliche Volk zugänglich machen. Mitglieder der Sefloradas heiraten nur Mitglieder der Sefloradas, das ist ein ungeschriebenes Gesetz.«
»Und das funktioniert?«, fragte Natalie skeptisch und blickte auf.
»Bislang schon, und das sind immerhin schon fast tausend Jahre«, sagte er mit spöttischem Unterton und trommelte mit seinen Fingern auf dem Schreibtisch.
»Wo ist denn Ihre Linie?«
»Das ist unwichtig, ich warte schon seit einer gefühlten Stunde darauf, dass du endlich deine findest«, sagte der Professor, und seine Ungeduld war nicht mehr zu überhören.
Natalie dachte, er würde mit ihr scherzen und ließ vor Schreck die Lupe fallen, die der Bücherschlund sofort aufhob und ihr überreichte.
»Wie? Meine... Linie?«, stotterte sie.
»Sieh selbst.«
Mit zittrigen Händen hielt sie die Lupe und suchte aufgeregt nach dem Namen Brebin – den sie dann auch fand. Mitten in dem Verzweigungsdickicht stand der Name ihrer Familie, sie musste ihn vorher einfach überlesen haben. Vielleicht auch, weil sie nie daran gedacht hätte, ihn hier zu finden.
Oskar Brebin, ihr Urgroßvater, hatte ein Mitglied aus der dritten Linie namens
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