Verliebt, verlobt - verrueckt
Damaskus-Erlebnis, meine wahre sexuelle Revolution, von der meine Umwelt allerdings kaum etwas mitbekam. Denn meine Entdeckung führte nicht etwa dazu, dass ich länger bei einer blieb und weniger auf der Suche war. Ich verliebte mich einfach häufiger. Und entliebte mich wieder. Ich war ständig überglücklich oder todunglücklich und hatte dabei jede Menge Sex. Nein, ich führte keine Liste, aber ich hätte es tun sollen, weil ich anfing, die Namen durcheinanderzubringen. Meine Eltern hatten mich aufgegeben. Sie prophezeiten mir, dass ich nie eine glückliche Ehe führen würde, denn dafür müsse man vor allem Enthaltsamkeit trainieren. Meine Freunde glaubten meinen Abenteuerberichten nicht mehrâ manchmal trieb meine Phantasie es auch wirklich noch toller als ich.
Wie sagen Leute mit Lebenserfahrung: Jedes Böcklein hat sich seine Hörner noch irgendwann abgestoÃen. Es ist ein Naturgesetz, dass die Energien schwinden. Aber das stimmt nicht, bei mir wurden sie nicht weniger, sie veränderten sich nur mit jeder neuen Begegnung. Ich war ja längst auf dem Weg und hatte erfahren, dass es Zustände gab, die erregender waren als losgelöster Sex. Sie hatten nur nie lang gedauert. Ich war neunundzwanzig, als ich » Der Mensch wird noch alles und ganz werden« in mein Tagebuch schrieb. Der Satz war von Elias Canetti und ich bezog ihn, wie fast alles in dieser Zeit, auf mich. Es sollte noch fast drei Jahre dauern, bis ich Amelie begegnete. Und das war gut so. So konnte ich noch ein wenig an mir und meiner » Utopie der Liebe« arbeiten. Was das ist? Ehrlich gesagt rede ich darüber nur ungern. Als ich nämlich einige Monate vor unserer Hochzeit in einem Biergarten meinem zukünftigen Schwager Nico meine Theorien zu Ehe und Liebe erläuterte, bekam der vor Lachen Bauchkrämpfe. Gut, er war deutlich jünger als ich, und der pragmatische Zeitgeist der späten Achtziger reagierte mit Herablassung auf jedes utopische Konzeptâ trotzdem kam ich mir vor wie ein Idiot. Ich hatte mich immer schon für schöne Sätze begeistert, auch wenn ich sie manchmal nicht vollständig begriff. Eines meiner Lieblingszitate stammte von Ernst Bloch, dem Philosophen der konkreten Utopie: »Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.« Also strebte ich in aller Bescheidenheit danach, unsere Ehe zu einer solchen Heimat zu machen.
Mühsam das Grinsen unterdrückend fragte Nico mich, was für Strategien ich denn dafür hätte. Nun ja, sagte ich, da es eine längere Reise werden könne, müsse genau überlegt werden, was in den Rucksack kommt und was nicht. Narzissmus und Egozentrik sollten möglichst drauÃen bleiben, dafür umso mehr Empathie und GroÃzügigkeit eingepackt werden. AuÃerdem müsse jeder bereit sein, sich immer wieder mal auf den Prüfstand stellen zu lassen und an der Entwicklung seiner Persönlichkeit zu arbeiten. Ich merkte, dass meine Tiraden verdammt nach einem Wanderprediger klangen, aber ich konnte nicht aufhören. » Ich träume von einem heimatlichen Ort«, sagte ich, » an dem aus den scheinbar unvereinbaren Gegensätzen zwischen Mann und Frau etwas gemeinsames Neues entstehen kannâ natürlich auch in sexueller Hinsicht. Dieser Ort existiert noch nicht, aber dass wir dorthin unterwegs sind, gibt uns die Kraft, aus unserer Ehe etwas ganz Besonderes zu machen.«
Ich glaube, das war der Moment, in dem Nico, der mich als Ironiker kennengelernt hatte, vor Lachen unter den Tisch rutschte. Als er wieder hochkam, erkundigte er sich vorsichtig, ob ich seine Schwester denn schon in meinen utopischen Plan eingeweiht hätte. » Noch nicht.« Er legte mir kameradschaftlich den Arm um die Schultern. » Dann warte lieber damit. Ich fürchte, sie ist noch nicht reif dafür.« Ich habe den Rat meines Schwagers beherzigt und Amelie gegenüber nur hie und da zaghafte Andeutungen über meine » Utopie« gemacht. Merkwürdigerweise hatte ich nur selten das Gefühl, dass wir auf völlig unterschiedlichen Wegen unterwegs waren. Hatte meine realistische Frau möglicherweise einen ganz ähnlichen geheimen Traum? Ich habe sie nie gefragt, weil sie es sowieso nicht zugeben würde. Aber es kommt mir so vor, als hätte die » Utopie der Liebe« in mehr als zwanzig Jahren unsere Ehe wie ein kleiner
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