Verliebte Abenteuer
während William vor seinem zerfließenden Eis hockte und eigentlich an nichts dachte.
Plötzlich zuckte er zusammen; von einer Querstraße einbiegend, betrat eine alte Dame, die eingehüllt war in düsteres Schwarz, die Promenade. Tapfer stapfte sie trotz der Hitze mit gewichtigen Schritten dahin. Auf ihren grauen Haaren saß ein schwarzer Seidenhut.
Nervös machte sich William an seinem Tisch klein, verzweifelt suchten seine umherirrenden Augen einen Fluchtweg, aber der Pavillon hatte nur einen Ausgang, und der führte hinaus auf die Promenade.
Tante Mary! Tante Mary Abbot war in Brighton!
Ashborne fühlte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Wußte Loretta etwa, daß Tante Mary hier war, und war sie deshalb nach Brighton gefahren? Natürlich, sie konnte ja tun und lassen, was sie wollte, sie war ihm keine Rechenschaft schuldig, er war doch nur Flip, der Chauffeur – was hätte Tante Mary mit Flip zu tun?
Ich muß weg, schoß es ihm durch den Kopf. Er sah, wie Loretta Tante Mary herzlich begrüßte und sie unterfaßte. Wenn sie hier hereinkommen, flüchte ich, dachte William. Ich renne einfach weg, fahre nach Invergarry oder auf die Insel Pabbay und verstecke mich. Jetzt ist mir alles egal. Tante Mary in Schwarz, in Trauer um den verlorenen Neffen – und er saß hier vor einem geschmolzenen Vanilleeis! Es war zum Heulen! Oder zum Schießen!
Bereit aufzuspringen, kauerte William auf seiner Stuhlkante. Aber Loretta blieb mit Tante Mary stehen und sah hinaus aufs Meer.
»Ist es hier nicht herrlich?« sagte sie. »Es war doch eine gute Idee, dir diese Reise vorzuschlagen, Tantchen? Oder nicht?«
Tante Mary nickte und wischte sich den Schweiß aus den Augen.
»Es wäre alles noch viel schöner, wenn der gute Junge, der liebe William endlich gefunden würde. Wie oft habe ich mich über ihn geärgert, und wie sehr fehlt er mir jetzt! Wenn wir wenigstens sicher sein könnten, daß er noch lebt. Sieh dir meine Kleidung an, dann weißt du, daß ich auf alles vorbereitet bin. Im übrigen verstehe ich nicht, Loretta, wie du dich allein unter die vielen Männer hier wagen kannst. Weißt du denn nicht, was die im Schilde führen? Die Geschichte mit William zeigt doch, in welchen Zeiten wir leben. Heute ist doch alles möglich.«
Loretta lächelte. Jetzt ist es soweit, dachte sie. Das Ende des Flip-Theaters steht vor der Tür.
»Ich bin nicht allein, Tante. Ich habe meinen Chauffeur und Kutscher mitgebracht.«
»Deinen Chauffeur und Kutscher?« Tante Mary zog geringschätzig die Augenbrauen hoch und blickte sich um. »Wo ist er denn?«
Loretta nickte zu dem Eispavillon hinüber.
»Dort. Der Große da mit dem Bart und der Sonnenbrille, der in der blauen Badehose am Tisch neben dem Eingang.«
Tante Mary schaute angestrengt hinüber und sah auch einen großen, bärtigen Mann dort sitzen. Er trug eine Sonnenbrille und eine blaue Badehose. Bart, Sonnenbrille und blaue Badehose interessierten aber Tante Mary nicht. Was ihren Blick magnetisch anzog, war eine breite Narbe auf der Brust des Mannes.
Tante Mary machte die Augen zu, dann riß sie sie wieder auf, und sie begann leicht zu schwanken.
»Die Narbe«, sagte sie aufgeregt. »Die Narbe auf der Brust … die hat er sich in Denbigh geholt … beim Spielen stürzte er auf die Kante einer Kohlenlore. Loretta … das ist doch … das ist doch …« Und plötzlich riß sie beide Arme hoch, setzte sich in Bewegung und schrie: »William! Guter Junge! William!«
Ashborne hörte den Schrei und sprang auf. Wie von Furien gehetzt, raste er aus dem Pavillon, rannte um die Ecke, sauste die Promenade entlang, kümmerte sich nicht um die erstaunten Leute und die rufende Tante Mary, stürzte in die nächste Querstraße und lief zum Hotel. Dort fuhr er mit dem Lift auf sein Zimmer, schlüpfte in rasender Eile in seinen Anzug, sauste mit dem Lift wieder hinunter in die Halle und sprang in eine der vor dem Hotel geparkten Droschken.
»Nach London!« stieß er hervor. »Fragen Sie nicht, fahren Sie los! Ich zahle den doppelten Preis!«
Als der Wagen um die Ecke fuhr, sah William, wie Loretta und die keuchende Tante Mary gerade um die Promenade bogen und ihm nachstarrten.
Aus! sagte er sich. Restlos aus! Heute abend wollte ich ihr alles sagen, und sie sollte sich entscheiden. Aber diese Blamage! Nein! Lieber irgendwo auf einer Insel Eidechsen fressen, als nach diesem Hereinfall noch einmal um Lorettas Hand anhalten.
Er lehnte sich in die Polster zurück und schloß die
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