Verliere nicht dein Gesicht

erste Mal ist am schlimmsten. Sie wollten mir aber nur Angst einjagen. Sie sagten, ich würde großen Ärger kriegen, wenn ich so was noch mal machte. Oder wenn ich irgendwem davon erzählte. Deshalb hab ich Shay nichts gesagt."
      "Das erklärt ziemlich viel."
      "Worüber denn?"
      "Über dich. Du schienst immer zu wissen, wie gefährlich das Leben in Smoke war. Auf irgendeine Weise hattest du die Städte durchschaut, noch ehe meine Eltern dir die Wahrheit über die Operation erzählen konnten. Mir ist außer dir nie ein Flüchtling begegnet, der das kapiert hat."
      Tally nickte. Das stimmte ja immerhin. "Ich hab das kapiert."
      "Und du willst noch immer dahin zurückkehren, um meine Eltern und Shay zu holen? Und riskieren, dass wir gefangen werden? Und dein Gehirn aufs Spiel setzen?"
      Sie brach in Schluchzen aus. "Das muss ich doch." Um dir gegenüber alles wiedergutzumachen.
      David drückte sie fester an sich und versuchte sie zu küssen. Sie musste ihr Gesicht abwenden, denn nun kamen ihr endlich die
      Tränen.
      "Tally, du bist die pure Überraschung."

     
 Zerstörung

      
      Sie verließen die Höhle erst am nächsten Morgen.
      Tally kniff im Licht der Morgendämmerung die Augen zusammen und suchte den Himmel nach einer Flotte aus Hubwagen ab, die sich plötzlich über den Bäumen erhob. Aber sie hatten die ganze Nacht hindurch nichts gehört, was auf eine Suchaktion hindeutete. Vielleicht war es jetzt, wo Smoke zerstört war, nicht der Mühe wert, die letzten Ausreißer zu jagen.
      Davids Hubbrett hatte die Nacht über in der Höhle gelegen und jetzt seit einem ganzen Tag kein Sonnenlicht mehr abbekommen, aber es war doch noch so weit aufgeladen, dass es sie wieder den Berg hinaufbringen konnte. Sie flogen zum Fluss. Tally knurrte nach vierundzwanzig Stunden ohne Essen der Magen, aber vor allem brauchte sie Wasser. Ihr Mund war dermaßen ausgedörrt, dass sie kaum sprechen konnte.
      David kniete am Ufer nieder und hielt seinen Kopf ins eisige Wasser. Tally zitterte bei diesem Anblick. Ohne eine Decke und Schuhe hatte sie in der Höhle die ganze Nacht gefroren, sogar in Davids Armen. Sie brauchte etwas Warmes im Bauch, ehe sie Dinge ertragen konnte, die noch kälter waren als der Morgenwind.
      "Was, wenn Smoke noch besetzt wird?", fragte sie. "Woher sollen wir etwas zu essen nehmen?"
      "Du hast gesagt, sie haben die Gefangenen in den Kaninchenstall gesteckt? Und was ist aus den Kaninchen geworden?"
      "Die sind weggelaufen."
      "Genau. Und jetzt können sie also überall sein. Und sie sind nicht schwer
      zu fangen."
      Sie schnitt eine Grimasse. "Na, von mir aus. Solange wir sie kochen."
      David lachte. "Natürlich."
      "Ich hab noch nie ein Feuer gemacht", gab sie zu.
      "Mach dir keine Sorgen. Du bist ein Naturtalent." Er stieg auf sein Brett und streckte die Hand aus.
      Tally war noch nie zu zweit auf einem Brett unterwegs gewesen und ertappte sich dabei, dass sie sich darüber freute, hier mit David zusammen zu sein und nicht mit irgendwem sonst. Sie stand vor ihm, ihre Körper berührten sich, sie streckte die Arme aus und seine Hände umfassten ihre Taille. Sie gingen ohne Absprache in die Kurven, Tally verlagerte vorher langsam ihr Gewicht und wartete darauf, dass David ihrem Beispiel folgte. Als sie sich eingespielt hatten, begannen ihre Körper sich gemeinsam zu bewegen und das Brett über den vertrauten Pfad zu manövrieren, als ob nur eine Person darauf stünde.
      Das klappte, solange sie langsam flogen, aber Tally lauschte die ganze Zeit auf Geräusche, die eine Verfolgung ankündigten. Wenn ein Hubwagen auftauchte, würde eine Flucht in vollem Tempo schwierig sein.
      Sie rochen Smoke, lange bevor sie es sehen konnten.
            ***
      Oben vom Berg her sahen die Gebäude aus wie heruntergebrannte Lagerfeuer, zerfallen, voller Rauch, ganz und gar schwarz. Nichts bewegte sich dort unten, mit Ausnahme von einigen Papierstücken, die der Wind erfasst hatte.
      "Das scheint die ganze Nacht gebrannt zu haben", sagte Tally.
      David nickte sprachlos. Tally packte seine Hand und fragte sich, was es wohl für ein Gefühl sein mochte, die Heimat seiner Kindheit als rauchende Ruine zu sehen.
      "Es tut mir so leid, David", sagte sie.
      "Wir müssen runter. Ich muss nachsehen, ob meine Eltern …" Den Rest des Satzes verschluckte er.
      Tally hielt Ausschau nach Menschen, die sich vielleicht noch in Smoke aufhielten. Der Ort sah völlig verlassen