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Verliere nicht dein Gesicht

Verliere nicht dein Gesicht

Titel: Verliere nicht dein Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Scott Westerfeld
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flogen zum Stadtrand, dann folgten sie der Eisenader, die aus dem Tal hinausführte. An deren Ende gerieten die Bretter ins Schwanken und sie stiegen ab. So müde Tally auch war, es kam ihr diesmal doch nicht mehr so unmöglich vor, das Brett zu tragen. Es war für sie jetzt kein Spielzeug mehr, wie der Ballon eines Winzlings. Das Hubbrett war zu etwas Soliderem geworden, zu etwas, das seinen eigenen Regeln gehorchte und das auch gefährlich werden konnte.
      Tally überlegte sich, dass Shay in einem Punkt Recht hatte: Sich die ganze Zeit in der Stadt aufzuhalten ließ alles auf irgendeine Weise wie Betrug wirken. Wie die Häuser und Brücken, die von Hubpfeilern getragen wurden, oder ein Sprung von einem Dach, wenn man eine Bungeejacke trug, nichts war in der Stadt ganz wirklich. Sie freute sich darüber, dass Shay ihr die Ruinen gezeigt hatte. Zumindest bewies dieses Chaos, das die Rusties hinterlassen hatten, dass alles fürchterlich schiefgehen konnte, wenn man nicht vorsichtig war.
      Als sie sich dem Fluss näherten, wurden die Bretter leichter und die beiden Mädchen sprangen dankbar darauf.
      Shay stöhnte, als sie in Position ging. "Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich will heute Nacht keinen einzigen Schritt mehr tun."
      "Garantiert keinen einzigen."
      Shay beugte sich vor und lenkte ihr Brett auf den Fluss hinaus, wobei sie sich in ihre Jacke hüllte, um sich vor der Gischt der Stromschnellen zu schützen. Tally drehte sich um, um noch einen letzten Blick auf die Ruinen zu werfen. Jetzt, wo die Wolken sich verzogen hatten, konnte sie sie gerade noch erahnen.
      Sie kniff die Augen zusammen. Dort, wo die Achterbahn sein musste, schien ein winziges Licht aufzuleuchten. Vielleicht war es nur eine Täuschung, eine Reflexion des Mondlichtes auf einem Stück nicht verrosteten Metalls. "Shay?", fragte sie leise. "Kommst du, oder was?", brüllte Shay durch das Tosen des Flusses.
      Tally kniff noch einmal die Augen zusammen, aber jetzt konnte sie den Lichtschein nicht mehr entdecken. Und außerdem waren sie schon zu weit weg. Wenn sie es Shay gegenüber erwähnte, würde die nur zurückkehren wollen. Und unter keinen Umständen wollte Tally diese Strapaze noch einmal auf sich nehmen.
      Vermutlich hatte sie sich ohnehin geirrt.
      Tally holte tief Luft und rief: "Na los, Skelett. Wer zuerst in Uglyville ist!" Sie trieb ihr Brett über den Fluss, durchschnitt die kalte Gischt und ließ für einen Moment eine lachende Shay hinter sich zurück.

 
  Streit
      

      
      "Sieh dir nur diese Bande an. Was für peinliche Gestalten!" "Haben wir je so ausgesehen?"
      "Wahrscheinlich. Aber dass wir mal peinlich waren, ist für sie ja wohl keine Entschuldigung."
      Tally nickte und versuchte sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, zwölf zu sein, wie das Wohnheim an ihrem ersten Tag dort ausgesehen hatte. Sie wusste noch, wie einschüchternd das Gebäude ihr vorgekommen war. Es war natürlich viel größer als das Haus von Sol und Ellie, und viel größer als die Hütten, in denen die Winzlinge unterrichtet wurden, nur zehn Kinder von einem Lehrer.
      Jetzt kam ihr das Haus klein und klaustrophobisch vor. Schrecklich kindisch, mit seinen grellen Farben und den gepolsterten Treppenstufen. So langweilig tagsüber, und nachts war es so leicht, daraus zu entkommen.
      Die neuen Uglies drängten sich dicht aneinander, sie hatten Angst, sich zu weit von ihren Betreuern zu entfernen. Ihre hässlichen kleinen Gesichter schauten zu den vier Stockwerken des Gebäudes hoch, ihre Augen waren erfüllt von Entsetzen und Staunen.
      Shay zog ihren Kopf im Fenster zurück. "Das wird ein solcher Spaß werden."
      "Das wird eine Orientierungsstunde, die sie nie im Leben vergessen."
      In zwei Wochen würde der Sommer zu Ende sein. Die Anzahl der Bewohner von Tallys Haus war im Laufe des Jahres immer mehr geschrumpft, denn nach und nach waren fast alle sechzehn geworden. Es war fast so weit, dass ein neuer Jahrgang an ihre Stelle trat. Tally sah zu, wie die letzten Uglies hereinkamen, unbeholfen und nervös, zerzaust und unkoordiniert. Zwölf war eindeutig ein Wendepunkt, dann verwandelte man sich aus einem niedlichen Winzling in einen übergroßen, unbeholfenen und unterbelichteten Ugly.
      Es war eine Lebensphase, die sie zu ihrer großen Erleichterung hinter sich hatte.
      "Bist du sicher, dass das klappen wird?", fragte Shay.
      Tally lächelte. Es kam nicht oft vor, dass Shay zur Vorsicht mahnte.

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