Verlockend untot
Geburtstagsgeschenk erhalten. Sie sind ein bisschen … exzentrisch.«
Ich nahm die Karten zurück und versuchte nicht, sie zu legen - damit hätte ich Unheil herausgefordert. Vorsichtig zog ich die oberste Karte vom Stapel, damit sich nicht noch weitere lösten. Wenn das geschehen wäre, hätten sie miteinander gesprochen.
»Der Mond, umgekehrt«, verkündete eine süße, beruhigende Stimme. Rasch legte ich die Karte zu den anderen zurück.
»Das war's?«, fragte Pritkin verwundert.
»Genaue Auskünfte darf man nicht erwarten«, erklärte ich. »Diese Karten sind eher wie eine … magische Wetterfahne. Sie geben das allgemeine Klima für die nächsten Tage oder Wochen an.«
»Und mit was für einem Wetter dürfen wir rechnen?«
»Der umgekehrte Mond deutet auf ein Muster oder einen Zyklus hin, der sich wiederholt.«
»Auf einen guten Zyklus?«
»Wenn das der Fall wäre, würde ich bestimmt nichts davon sehen«, murmelte ich.
Das brachte mir eine gehobene Braue ein.
»Die guten Dinge sehe ich nicht«, führte ich aus. »Jedenfalls, die Karten können auf unterschiedliche Arten interpretiert werden, aber normalerweise steht der umgekehrte Mond für eine dunkle Zeit, wie die dunkle Seite des Mondes, verstehst du?«
»Wie dunkel?«
»Kommt darauf an. Aus der individuellen Perspektive betrachtet deutet er auf eine Zeit tiefer Gefühle und Verwirrung hin, auf tief vergrabene Emotionen, die wieder nach oben kommen…«
»Und wenn man sich eine größere Perspektive zu eigen macht?
Eine nationale?«
»Leute mit dunklen Absichten, Ordnung, die in Chaos übergeht, Kriege, Revolutionen, Aufruhr.«
»Ziemlich dunkel«, kommentierte Pritkin trocken.
»Meistens«, räumte ich ein und fügte dann die übliche Aus-schlussklausel hinzu. »Aber Tarot-Karten bieten nur Hinweise; sie geben keine klare, absolute Auskunft. Was die Zukunft betrifft, steht nichts fest. Entschieden wird erst, wenn die Dinge passieren. Wir schaffen die Zukunft jeden Tag, indem wir eine gute oder schlechte Wahl treffen.«
Pritkin verzog zynisch die Lippen. »Aber das gilt auch für alle anderen, nicht wahr? Und nicht alle von ihnen streben dieselben Ziele an, oder?«
»Nein«, sagte ich und dachte an den Krieg. Ich griff nach der Cola-Dose und nahm einen Schluck, bevor ich mich daran erinnerte, dass warme Cola wie Batteriesäure schmeckte. Ich stellte die Dose wieder auf den Tisch.
»Am Kühlschrank hängt ein Kalender«, sagte ich nach einer Weile.
Pritkin schwieg.
»Ich weiß nicht, wieso das Ding dort hängen bleibt. Ich meine, es ist Edelstahl. Nichts klebt daran.«
Er trank Bier.
»Aber er hängt dort, und ich sehe ihn jeden Tag. Direkt nach dem Aufstehen. Wenn ich mir eine Coke nehme oder was auch immer. Er…« Ich zögerte.
»Die Krönung.« Es war keine Frage.
»Ja.«
Darum ging es. In gewisser Weise. Es ging auch um Probleme dabei, mehr über meine Macht herauszufinden, um die Weigerung von Senat und Kreis, mich ernst zu nehmen, den Mangel an nützlichen Visionen über den Krieg und jetzt auch den Umstand, dass mir jemand nach dem Leben trachtete. Schon wieder.
Aber die Krönung reichte vorerst. Sie war zu einem Symbol für alles geworden, zum Höhepunkt des ganzen verdammten Durcheinanders: der schnell näher kommende Tag, an dem man mich, Cassie Palmer, als die hellste Hellseherin der übernatürlichen Welt präsentieren würde. Ich stellte mir vor, wie besagte Welt einen Blick auf mich warf und sich kaputtlachte.
Verdenken konnte ich es ihr nicht. Vor nicht einmal zwei Monaten war ich Sekretärin eines Reisebüros gewesen. Ich hatte Anrufe entgegengenommen, Briefe geschrieben und verdammte Anzüge des Chefs von der Reinigung abgeholt.
An meinen freien Tagen hatte ich mir ein bisschen was hinzu-verdient, indem ich Tarot-Karten legte, denn mein mickriger Stun-denlohn reichte einfach nicht, alle Rechnungen zu bezahlen. Allerdings, viel Geld verdiente ich auch mit den Karten nicht, denn die Leute fanden keinen großen Gefallen an meinen Weissagungen.
Eigentlich wollte niemand die Zukunft kennen. Die Leute wollten, dass man sie beruhigte, dass man ihnen Hoffnung gab, einen Grund, warum sie morgens aufstehen sollten. Damals hatte ich das nicht verstanden und geglaubt: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.
Inzwischen war mir klar, warum ich kaum Stammkunden bekommen hatte. Ich hätte selbst ein bisschen Beruhigung gebrauchen können, auch wenn es eine Lüge gewesen wäre. Das Morgen wollte ich ganz gewiss nicht
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