Verlockende Angst

Haut nahm einen Perlmuttschimmer an.
    » Dann setz dich auf! Durchbrich meinen Griff! «
    Als Nächstes passierte ganz viel auf einmal.
    Ich spürte, wie der Zorn sich tief in meinem Innern Bahn brach und wie ein fest umwickeltes Energieknäuel barst. Der Eindruck war so stark und so lebhaft, dass ich es mir genauso vorstellte wie die Schnur, die sich bei unserer ersten Berührung um Seth und mich geschlungen hatte.
    Seth beugte sich vor und griff nach meinem Arm. Zu nahe… er kam mir viel zu nahe. Die Energie sprang auf wie eine angespannte Feder, mein Herz stand still, und der Stein, auf dem ich gestanden hatte, explodierte mit lautem Knall.
    Das Geräusch überraschte Seth so sehr, dass er den Wind, der mich niederdrückte, ganz plötzlich losließ. Jeder Muskel in meinem Körper hatte sich angespannt, als ich mich aufzusetzen versuchte. Als er nun losließ, flog ich nach oben und rammte ihn. Mein Körper prallte so heftig gegen ihn, dass er auf den Rücken geschleudert wurde. Sofort schlang er die Arme um mich.
    Ich fragte mich, was das alles mit Training zu tun hatte.
    So blieben wir eine Weile schwer atmend liegen. Ich begriff überhaupt nicht, was eben passiert war, und konnte mir nicht den geringsten Reim darauf machen.
    » Alex…? «
    Ich schob mich von seiner Brust hoch und blinzelte auf ihn hinunter. Die Apollyon-Zeichen huschten mit einer verrückten Geschwindigkeit über seine Haut. Ich hatte noch nie gesehen, dass sie sich so bewegten. » Ähem… «
    Seths Blick war wild, seine Augen glühten. » Also, ich war das nicht. «
    » Ich auch nicht. «
    » Unsinn! « , stieß er ungläubig hervor.
    Ich schluckte. » Okay. Vielleicht war ich das ja doch. «
    » Wie hat es sich in dir angefühlt, als es passiert ist? «
    » Keine Ahnung, irgendwie ein Gefühl, als ob sich in meinem Magen etwas zusammenzieht. «
    Er schüttelte den Kopf. » Eigentlich kann das nicht sein, aber es ist offensichtlich doch so– du erwachst bereits. Unglaublich, aber es erklärt, warum du meine Gefühle spüren konntest. «
    » Was? « Ich wollte mich aufsetzen, aber er hielt mich an den Hüften fest. » Was meinst du damit, dass ich erwache? Bin ich dem Zeitplan irgendwie voraus? «
    Seth versuchte zu lachen, aber es klang eher wie ein Keuchen. » Nein. Ich habe keine Ahnung. Ich meine… wer weiß das schon? Oder? Die anderen beiden Apollyons waren nie zusammen, bis Solaris erwachte. Er hat Solaris erst nach ihrem Erwachen gespürt. Vielleicht funktioniert es so. Ist dir so etwas schon vorher widerfahren? «
    » Klar, ich sprenge in meiner Freizeit jeden Tag Felsen. Herrje, nein! « Ich bewegte mich wieder. » Du kannst loslassen, Seth. «
    Er schenkte mir ein warmes Lächeln. » Ich glaube, dazu bin ich noch nicht bereit. Aber leg doch erst mal deine entsetzte Miene ab! Es ist doch alles gar nicht so übel, Alex. Nein– ganz und gar nicht. Es ist vielmehr große Klasse. Wir können mit der Arbeit an deinen Kräften beginnen und… «
    Ich hörte weg. Meine entsetzte Miene hatte nichts mit dem Sprengen von Felsen zu tun. Ich hatte mich längst damit abgefunden, dass ich eines Tages zu einer Massenvernichtungswaffe mutieren würde. Mein Gesichtsausdruck rührte daher, dass unsere Körper sich an allen strategischen Punkten berührten, an denen sich Körper gern berühren.
    » Hörst du mir überhaupt zu, Alex? «
    » Ja. « Ich starrte die Runen an, die an seinem Hals hinabliefen. Als sie seinen Puls erreichten, schienen sie zu pochen. Ich verlagerte mein Gewicht. Ein heftiger, unbezähmbarer Drang überkam mich. Ich wollte– musste– sie berühren. Dann würde sicher etwas passieren.
    » Du hörst mir so was von nicht zu! « Seth seufzte. Durch die Bewegung kamen wir uns noch näher. » Weißt du « , meinte Seth, » das eröffnet so viele Möglichkeiten. Wir… «
    Ich streckte die rechte Hand aus und berührte die Rune an seinem Hals, wo sein Puls pochte. Nur mit einer Fingerspitze. Knisterndes blaues Licht flammte auf. Das Lichtbündel spaltete sich. Ein Strahl schoss durch meine Fingerspitzen, der andere legte sich pulsierend über seinen Hals. Meine ganze Hand schmerzte, als hätten glühend heiße Nadelstiche sie verbrannt.
    Seth wölbte den Rücken, und seine Finger gruben sich in meine Haut. Unter meiner linken Hand hob und senkte sich seine Brust. Er riss die Augen weit auf, schien aber nichts zu sehen. Die Zeichen auf seinem Gesicht veränderten Form und Farbe und nahmen denselben Blauton an wie der Himmel kurz