Verlockende Angst
Plötzlich wusste ich, warum ihr Gesicht immer diesen wehmütigen Ausdruck annahm, wenn sie mich sah.
Sie nickte. » Du siehst genau aus wie Rachelle in deinem Alter. Du bist ein wenig stürmischer, aber ich glaube, da spricht dein Vater aus dir. «
Mir wurde ganz eng in der Brust. » Sie… sie kannten meinen Vater? «
» Ja. « Sie kam auf mich zu und senkte die Stimme. » Er war eine viel bessere Wahl und passte besser zu Rachelle als Lucian, aber deiner Mutter blieb im Grunde nichts anderes übrig. Viele Leute werden dir erzählen, sie sei deinem Vater nach ihrer Heirat mit Lucian begegnet, aber das stimmt nicht. Sie kannte deinen Vater zuerst– liebte deinen Vater schon lange, bevor Lucian auf die Bildfläche trat. «
» Aber… das verstehe ich nicht. Sie hat Lucian sehr jung geheiratet, mindestens fünf Jahre vor meiner Geburt. «
Ein träumerischer Ausdruck trat in Laadans Augen, als sie sich an eine mir unbekannte Vergangenheit erinnerte. » Dann kannst du dir vorstellen, welchen Skandal deine Geburt heraufbeschwor. Aber lass nicht zu, dass das ein schlechtes Licht auf die Beziehung deiner Eltern wirft! Ihre Gefühle glichen jenen in diesen törichten Büchern, die deine Mom so liebte. Zunächst waren sie und Alexander nur Freunde– eigentlich waren wir drei befreundet. Aber im Lauf der Jahre entwickelte sich aus der Freundschaft ein viel tieferes Gefühl. «
Es fühlte sich seltsam und merkwürdig wunderbar an, den Namen meines Vaters laut ausgesprochen zu hören– als wäre er ein echter Mensch gewesen, der vor langer Zeit gelebt hatte.
» Rachelle versuchte, das Richtige zu tun. Nach der Heirat mit Lucian hielt sie sich von deinem Vater fern, solange sie konnte. Die Ehe mit Lucian entsprach schließlich den Erwartungen, die alle an sie stellten. Sie war fest entschlossen, die Regeln unserer Gesellschaft zu befolgen. Die Liebe zwischen den beiden ließ sich allerdings nicht allzu lange verleugnen, ganz gleich, wie falsch sie sein mochte. « Laadan unterbrach sich und ihre Augen weiteten sich. » Geht es dir gut, Alexandria? «
» Ja. « Ich schüttelte den Kopf. » Tut mir leid. Mom hat nie von ihm gesprochen. Wirklich nie. Ich hatte keine Ahnung, dass das so eine epische Liebesgeschichte war. «
Sie presste die Lippen aufeinander und wandte sich ab. Dann trat sie auf eine der Lampen mit den grüngoldenen Glasschirmen zu und schüttelte den Kopf. » Nach allem, was geschehen war, konnte deine Mutter wohl kaum über ihn sprechen. «
Ich folgte ihr. » Wie war er? «
» Alexander? « Laadan lächelte wehmütig. » Ein anständiger Mann, fast schon übertrieben zuverlässig, sehr gut aussehend, und Rachelle bedeutete ihm die Welt. « Sie drehte sich um und verschränkte die schlanken Arme vor der Brust. » Du siehst ihr ähnlich, aber du hast seine Persönlichkeit. Als Marcus an diesem Tag in seinem Büro aus deiner Akte vorgelesen hat, da konnte ich nur an Alexander denken. Er ist unglaublich willensstark, ein wenig waghalsig und stürmisch. «
So, wie sie über Alexander redete– als würde er noch leben–, erhob sich in mir die Frage, ob sie auch etwas für ihn empfunden hatte. » Was hätte er wohl von mir gehalten? « Ich kicherte verlegen. » Das klingt so bescheuert. «
» Nein, ganz und gar nicht. Er wäre stolz auf dich, Alexandria. Ich hoffe, das weißt du. «
» Nun ja, ich bin ein Apollyon. «
Sie streckte die Hand aus und strich mir über den Arm. » Stolz nicht auf das, was du werden wirst, sondern darauf, was du bereits bist. «
Tränen brannten mir in den Augen und ich kam mir so schwach vor. Ich rückte von Laadan ab und spielte mit der Kette der Lampe. » Also, ich weiß nicht… Ich hätte etwas tun sollen, als Mom den Covenant verließ. Und ich hätte ihr wirklich nicht folgen dürfen, nachdem sie umgedreht worden war. Oder hätte wenigstens in den Covenant zurückkehren sollen, als Caleb auftauchte. Ich habe es nicht getan. Ich meine… was habe ich mir nur dabei gedacht? «
» Du hast dich für das Richtige entschieden. « Sie trat neben mich und stützte die Hände auf den verkratzten alten Tisch, auf dem die Lampe stand. » Rachelle hätte dich wahrscheinlich dafür geohrfeigt, etwas so unglaublich Gefährliches zu tun. Aber du hast dafür gesorgt, dass sie Frieden gefunden hat. «
» Glauben Sie? «
» Ja. «
Der Stein, der auf meiner Brust lastete, wurde ein wenig leichter, aber ich atmete immer noch stoßweise. » Ich habe es so oft verbockt, richtig schlimm
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