Verlockende Angst
wurden, nach der für Halbblüter geltenden Ausgangssperre außerhalb Ihres Wohnheims unterwegs waren? «
Mir war so klar, worauf seine Worte hinausliefen, dass ich gleich auf den Punkt kam. » Ich habe die Daimonen nicht hereingelassen, falls Sie das andeuten wollen. «
Tellys Lächeln wurde säuerlich. » So sieht es aber aus. Und dann Ihr Verhalten, seit Sie hier eingetroffen sind. Sie haben den Vorwurf erhoben, ein Reinblut habe geistigen Zwang gegen Sie ausgeübt, stimmt’s? «
» Sie hat was? « , kreischte die ältere Ministerin. » Einem Reinblut so etwas vorzuwerfen, ist unerhört. Gab es Beweise dafür, Minister Telly? «
» Meine Gardisten konnten keine Hinweise finden, die diese Behauptung unterstützt hätten. « Telly legte eine dramatische Kunstpause ein. » Und dann haben Sie einen Meister angegriffen, der eine Dienerin maßregeln wollte. «
An diesem Punkt rasteten mehrere Minister aus. Telly stolzierte selbstzufrieden umher, während sie zu wissen verlangten, was genau passiert sei. Ich stellte mir vor, wie ich über das Podium rannte und Telly immer wieder zwischen die Beine trat.
Als sich der Aufruhr halbwegs gelegt hatte, wandte sich Telly an den Rat. Laut hallte seine Stimme durch das Colosseum. » Ich fürchte, wir haben größere Sorgen als Daimonen, die sich zusammenrotten und uns in Scharen angreifen. Was Sie vor uns sitzen sehen, wirkt vielleicht wie ein gewöhnliches Halbblut, aber wir wissen alle, dass dem nicht so ist. In einigen Monaten wird sie sich in den zweiten Apollyon verwandeln. Wenn sie in Zukunft auch nur halb so unbeherrschbar ist wie heute– wie wird sie sich dann erst nach ihrem Erwachen verhalten? «
Mein Herz geriet ins Stolpern und setzte einen Schlag aus.
» Als Erster Minister schmerzt es mich zutiefst, diesen Vorschlag unterbreiten zu müssen, doch ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. Wir müssen die Zukunft unserer getreuen Meister schützen. Ich beantrage, Alexandria Andros aus dem Covenant zu entfernen und unter die Aufsicht der Meister zu stellen. «
Reflexartig zuckte ich nach vorn, aber ich konnte mich nicht einmal bewegen. Vor Angst war mein Mund wie verklebt und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Das also wollte Telly– nur deswegen war ich hier. Das alles hatte nichts mit den Plänen der Daimonen zu tun.
Ich spürte, wie sich über uns ein Sturm zusammenbraute. Ein Schauder lief mir über die Haut und stellte die winzigen Härchen am Körper auf. Seth war dabei, ein Gewitter loszulassen.
» Minister Telly, meine Stieftochter hat kein Verbrechen begangen, das mit Knechtschaft zu ahnden wäre « , wandte Lucian ein. » Bevor Sie sie aus dem Covenant ausschließen und in Knechtschaft werfen können, muss sie erst für schuldig befunden werden. «
» Als oberster Minister… «
» Als oberster Minister verfügen Sie über große Macht. Sie können sie aus dem Covenant entfernen, aber Sie können sie ohne angemessenen Grund und ohne eine Ratsabstimmung nicht zur Knechtschaft verurteilen « , erklärte Lucian. » So lauten die Regeln. «
Ich sah auf und begegnete Aidens Blick. Dies war einer der seltenen Momente in meinem Leben, in denen ich genau wusste, was Aiden dachte.
Ich drehte mich auf meinem Stuhl um. Telly starrte Lucian wütend an, aber ich erkannte, dass Lucian recht hatte. Telly konnte mich hinauswerfen, aber er konnte mich nicht aus einer Laune heraus in Knechtschaft schicken. Dazu brauchte er das Votum des Rats. Und ich hatte das Gefühl, dass dessen Zustimmung auch seine letzte Amtshandlung gewesen wäre.
» Dann verlange ich eine Abstimmung. « Tellys Stimme klang eiskalt.
Ich berechnete die Entfernung zwischen meinem Platz und der Tür zu meiner Rechten. Meine Muskeln spannten sich an, ich ließ die Armlehnen los und wandte mich zur Seite. Der Pullover fiel mir vom Schoß. Ich hatte nicht vor, die halbblütigen Gardisten zu verletzen, aber ich musste an ihnen vorbeikommen.
Und dann?
Würde ich rennen, als wäre der Teufel hinter mir her.
» Wofür stimmen Sie? « , fragte Telly.
Beim ersten Ja überlief mich ein Schauer, beim zweiten knisterte die Luft wie elektrisch aufgeladen. Als das dritte Ja die Spannung ins Unermessliche trieb, rutschten die Zuhörer auf ihren Plätzen hin und her. Am liebsten hätte ich Aiden ein letztes Mal angesehen, aber ich konnte den Blick nicht von der Tür losreißen. Sie war meine letzte Chance.
Drei der Minister sagten Nein und Telly marschierte mit großen Schritten zum Ende des
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