Verlockendes Dunkel
Feuer aus und fuhr mit den Fingerknöcheln über die grau melierten Bartstoppeln in seinem hageren Gesicht. »Ich kenne Helena, seit sie kaum größer war als eine Ente. Wir sind Cousin und Cousine zweiten Grades von Seiten ihrer Mutter«, sagte er und beugte sich ein wenig näher vor. »Ich gehöre zu dem zwielichtigen Zweig unserer Familie.«
»Ich wusste, dass es einen Grund gab, warum wir beide uns so gut verstehen. War Miss Roseingrave schon immer solch ein liebenswürdiges Geschöpf?«
Rogan lachte. »Sie kann ganz schön kratzbürstig sein, nicht? Das kommt wahrscheinlich daher, dass sie eine Amhas-draoi ist. Die sind ja nicht gerade bekannt für ihre sanfte, liebevolle Seite, nicht? Doch das müssten Sie ja besser als alle anderen wissen.« Eine dunkle Röte schoss ihm ins Gesicht. »Entschuldigen Sie, mein Junge! Ich wollte nicht gefühllos klingen.«
»Die Wahrheit ist die Wahrheit. Warum also drum herumreden?«
Rogan spielte mit seinem Glas und sah noch immer recht betreten aus. »Eine hässliche Geschichte, nach allem, was ich hörte. Wie haben Sie … ich meine … die Amhas-draoi sind ja nicht bekannt dafür, Probleme unerledigt zu lassen.«
»Es ist erstaunlich, wie schnell ein Mann rennen kann, wenn sein Leben auf dem Spiel steht.« Hatte er nicht eben noch gedacht, Rogan sei eine angenehme Gesellschaft? Diese Art von Verhör trug jedenfalls nicht dazu bei, Brendans Stimmung zu verbessern, und so legte er den Kopf zurück und schloss die Augen.
»Ich hatte ganz vergessen, dass Sie sagten, Sie trinken nicht.«
Als er die Augen öffnete, sah er Rogan wieder nach der Whiskeyflasche greifen. Brendans Blick heftete sich auf das Glas, dessen Inhalt von einem sanften Goldton war wie eine spätsommerliche Sonne. Der Geruch stach ihm in die Nase und brannte in seiner Lunge. Beim Einatmen konnte er den Whiskey weich und wohlschmeckend auf der Zunge spüren. Ein Glas nur. Ein Glas konnte er sich doch sicher leisten? Nur zum Einschlafen. Um die Träume fernzuhalten und den Erinnerungen Einhalt zu gebieten. Um aufzuhören zu denken.
Er wandte sich ab. »Nüchtern lebt es sich leichter.«
Schweigen legte sich über den Raum, nur das Knacken des Feuers und der Wind hinter dem Fenster waren zu hören.
Rogan stand auf, um seine Harfe zu holen, ließ sich mit ihr wieder in dem Sessel nieder und legte das Instrument auf seinen Schoß. Dann schlug er ein paar Takte an, um die zunehmende Spannung zwischen ihnen aufzulockern. »Da wir schon solch vertrauliche Gespräche führen – Ihre Miss Fitzgerald ist eine sehr beherzte junge Frau. Wie sie Sie und Helena heute Abend herausgefordert hat …« Er pfiff anerkennend durch die Zähne. »Ihr und Helenas Gesichtsausdruck war unbezahlbar.«
Brendan lächelte und schüttelte den Kopf. »Sie hatte ja recht. Eine Leiche wäre verdammt schwer vor dem Personal zu verstecken.« Er verkniff sich ein Lachen. »Elisabeth mag zwar sanft und liebenswürdig wirken, aber verärgern Sie sie, und sie wird zu einer Naturgewalt. Ich muss sagen, ich war froh, dass sie ihre Krallen ausnahmsweise mal in jemand anderen schlug.«
»Sie sprach einmal von ihrem Verlobten …«
Brendan verzog das Gesicht. »Mr. Gordon Shaw. Ein junger Mann von untadeligem Charakter und mittelmäßigem Temperament. Oder, mit anderen Worten, ein verdammter Blödmann.«
Der Harfenist lachte, und die Melodie, die er spielte, wurde zu einem wehmütigen Klagelied. »So ist das also?«
»So ist was? Lissa und ich? Höchst unwahrscheinlich.«
Die Musik linderte die anhaltende Versuchung des Whiskeys vor ihm und füllte die Leere in ihm mit etwas anderem als Alkohol. Er hatte vergessen, was für ein Gefühl simplen Friedens solche Momente mit sich brachten. Es war lange her, seit er Zeit gehabt hatte, Musik zu hören. Das Musizieren war einmal seine liebste Beschäftigung gewesen. Eine Möglichkeit, die wachsenden Erwartungen seines Vaters zu vergessen. Und Aidans verhaltenen Neid. Selbst Sabrina und Mutter hatten auf ihre stillere Art und Weise etwas von ihm verlangt, ob es nun Liebe oder Pflichterfüllung war.
All das hatte er verdrängen können, während er sich auf die komplizierte Melodie und Harmonie zwischen der linken und der rechten Hand beim Klavierspielen konzentrierte. Dann konnte er die Last der Kindespflicht und die Bürde väterlichen Vertrauens abwerfen. Niemand verließ sich auf ihn. Niemand brauchte ihn. Wenn er musizierte, konnte er einfach nur existieren.
Sein letzter Abend in Dun Eyre
Weitere Kostenlose Bücher