Verlockung der Nacht
vorausgegangen war und in der Kammer auf uns wartete. Noch ein schiefer Felsvorsprung, dann waren wir in dem Teil der Höhle, in dem sich die Falle befand. Vorsichtig bahnte Tyler sich seinen Weg und murmelte dabei vor sich hin, dass wir ihm eine neue Hose schuldeten, wenn er an einem Kalksteinbrocken hängen blieb und sie zerriss.
»Geschieht dir ganz recht. Wer trägt schon Dolce & Gabanna auf einer Höhlenexpedition?«, meinte ich.
»Wenn mir heute die Lichter ausgehen, sterbe ich wenigstens gut gekleidet «, war seine Antwort.
Ich wollte ihm versichern, dass wir nie und nimmer sterben würden, aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich würde mein Bestes tun, um Tyler zu beschützen, und das wusste er auch, aber wir hatten es mit einem mächtigen, boshaften Geist und einer möglicherweise nicht funktionstüchtigen Falle zu tun. Gestern hatten wir die Falle ausprobiert und Fabian und Elisabeth erfolgreich darin festhalten können, aber Tyler weiszumachen, er würde nicht sein Leben riskieren, wenn er Kramer herbeirief, wäre eine glatte Lüge gewesen, und ich wollte niemanden anlügen, der inzwischen mein Freund geworden war.
»Da wären wir«, sagte ich, als sich die Kammer zu einem fast zehn Meter hohen Dom weitete, an dessen hinterer Wand ein kleiner Bach plätscherte. Bones stand mitten darin neben einer rechteckigen Konstruktion aus Kalkstein, Quarz und Moissanit. Dexter und Helsing saßen in Tragekörben am sandigen Ufer, umschwebt von Fabian und Elisabeth. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, sollte Elisabeth auch einen Blick auf unsere Arbeit werfen dürfen. Fabian hatte natürlich nicht zurückbleiben wollen, obwohl er einen niedrigeren Energielevel hatte und es ihm schwerer fiel, die Höhle voller Kalkstein, Quarz und Moissanit zu betreten.
Mein Blick begegnete dem von Bones. Falls er sich Sorgen machte, verriet das weder sein Gesichtsausdruck noch seine Aura, und seine dunklen Augen funkelten voller Tatendrang. Mit dem engen langärmligen schwarzen Shirt und ebensolchen Hosen wäre er fast mit der Umgebung verschmolzen, hätten sein bleiches Gesicht und die Hände nicht einen so krassen Kontrast gebildet. Was auch gut so war, da Kramer ihn ja erst zu Gesicht bekommen sollte, wenn es zu spät war.
»Bereit, Schatz?«, fragte er.
»Fast, Süßer«, antwortete Tyler mit einem koketten Zwinkern.
Ich verdrehte die Augen. Bones’ Selbstsicherheit und Tylers charmantes Flirten verwandelten meine Nervosität allmählich in Optimismus. Wir konnten es schaffen. Nein, halt – wir würden es schaffen.
Ich schnappte mir etwas von dem Salbei, den wir am Bachufer aufgehäuft hatten, und stopfte ihn in meinen Rucksack. Tyler tat es mir nach. Genau wie er hatte ich in jeder Hosentasche ein Feuerzeug. Jetzt brauchten wir nur noch das Ouija-Brett, und Tyler war auch schon dabei, es aus seinem Rucksack zu holen.
Also dann, Inquisitor. Wir haben eine Überraschung für dich.
»Fertig.«
Tyler und ich saßen uns gegenüber auf der Plattform aus Stein und Quarz, das Ouija-Brett zwischen uns. Diesmal zuckte die Planchette nicht, als ich meine Finger darauflegte, als müsste man mich erst noch daran erinnern, dass meine von Marie geborgten Fähigkeiten verschwunden waren.
Tyler zog die Augenbrauen hoch, als er es ebenfalls bemerkte. »Möchtest du mir etwas sagen, Cat?«
»Nö«, antwortete ich, und das war die reine Wahrheit. Tyler wusste nicht, dass der fragile Frieden zwischen Vampiren und Ghulen vor allem deshalb bewahrt wurde, weil beide Parteien glaubten, ich würde über einen speziellen Draht zu den Toten verfügen. Zum Glück wusste nur Bones, wie lange sich meine geborgten Fähigkeiten im Durchschnitt hielten, sodass ich die Illusion, ich könnte die Restwesen herbeirufen, noch ein wenig länger aufrechterhalten konnte.
Über die Zeit danach würde ich mir später Gedanken machen. Immer schön ein heikles Problem nach dem anderen.
»Na gut«, meinte Tyler, als klar war, dass nicht mehr aus mir herauszuholen war. Er räusperte sich, murrte, dass er bei dem, was er vorhatte, bestimmt wieder irgendetwas Scharfkantiges in den Hals bekommen würde, und legte dann den Finger auf die Planchette.
»Heinrich Kramer, wir rufen dich, komm zu uns.«
Tylers Stimme hallte durch die Höhle, laut und gebieterisch, obwohl er sich im Stillen rügte, zuvor nicht aufs Klo gegangen zu sein.
»Höre uns, Heinrich Kramer, komm zu uns. Wir rufen deinen Geist durch den Schleier in unsere Welt …«
Die Planchette
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