Verloren: House of Night 10 (German Edition)
nicht von uns beiden zugleich nähren«, sagte Erebos unbewegt. »Wenn ich mit dir dort hinaufflöge, könnten wir mit vereinten Kräften die alte Frau befreien und zu ihren Lieben zurückbringen. Neferet könnte uns nicht aufhalten.«
Kalona drehte sich so, dass er seinen Bruder ansehen und zugleich das Penthouse im Auge behalten konnte. »Warum würdest du das tun?«
»Natürlich um zu bekommen, was ich will.«
»Und was wäre das?«
»Dass du dem House of Night den Rücken kehrst – und zwar jedem House of Night. Die Vampyre sind nicht dein Volk. Verlebe deine Ewigkeit anderswo und überlass es der Göttin der Nacht und ihrem Gefährten, der Sonne, sich um ihre Kinder zu kümmern.«
»Ich habe dem Tod meinen Kriegereid geschworen. Ich werde nicht eidbrüchig werden.«
»Du bist schon einmal eidbrüchig geworden. Was ist da ein zweites Mal?«
»Ich werde niemals wieder eidbrüchig werden!« Kalonas Wut ließ die Luft um sie beide mit der kalten Macht des Mondlichts erzittern. Nebel stieg aus dem sonnenerfüllten Körper seines Bruders auf und glitt über seine goldwarmen Flügel.
Erebos bewegte die Schwingen, und der Nebel verglühte. »Wie immer denkst du nur an dich«, bemerkte er spöttisch.
Kalona schüttelte angewidert den Kopf. »Was würde Nyx dazu sagen, wenn sie hörte, wie du um das Leben einer alten Frau schacherst?«
Erebos schnaubte. »Du redest vom Leben einer einzigen alten Frau? Wie viele Frauen, alt oder jung, hast du in den Äonen deiner Verbannung vernichtet?«
Kalona drehte seinem Bruder den Rücken zu. »Nyx weiß nicht, dass du hier bist. Ich bin verbannt. Ein Eidbrecher. Und doch erkenne ich, dass Nyx das, was du hier tust, verachten würde, wenn sie es herausfände.«
»Du bist es, den meine Göttin verachtet!«
Kalona sah ihm nicht nach. Als die Hitze und der glühende Hass seines Bruders abebbten, wusste er, dass dieser in die Anderwelt zurückgekehrt war.
Stumm sah Kalona wieder über die Straße hinweg zu der Dachterrasse. Nicht lange, und Thanatos gesellte sich zu ihm. »Der Kreis ist vollendet. Der Zauber ist gesprochen. Nun können wir nur noch warten.«
»Und wachen«, stimmte Kalona zu. Im Stillen fügte er hinzu: Und hoffen.
Aurox
Er spürte es, als der Schutzzauber in Kraft trat, und wusste, was das bedeutete. Er verlor keinen Augenblick, stürmte in den Aufzug und drückte den obersten Knopf. »Los! Na macht schon!«, trieb er die geschlossenen Türen an. Das geht zu langsam! Ich müsste jetzt schon dort sein! Wenn ich den Zauber spüren kann, dann kann sie es auch! Aurox hätte die Wände der träge aufsteigenden Metallbox mit den Fäusten bearbeiten mögen. Heiß und mächtig wallte eine verzweifelte Wut in ihm auf. Die Bestie regte sich.
Aurox erstarrte. Er zwang sich, seine panischen Atemzüge unter Kontrolle zu bekommen. Nicht die Bestie wecken … nicht die Bestie wecken …, kreiste es in seinen Gedanken. Erst als der Aufzug endlich das oberste Geschoss erreicht hatte und die Türen sich gemächlich öffneten, fanden ihn die Elemente. Ihre kraftvolle, beruhigende Energie strömte in ihn ein und erstickte die Glut der Bestie.
Er stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus und trat mit erneuter Zuversicht in den Eingangsflur aus glänzendem Marmor. Der Geruch von Neferets Blut hing schwer in der Luft. Einen Augenblick lang war Aurox verwirrt. War es Grandma Redbird gelungen, die Priesterin zu verwunden?
Dann hörte er das Gelächter und das vertraute Schaben, das ertönte, wenn die Fühler der Finsternis sich wimmelnd auf eine Nahrungsquelle stürzten. Er hörte auch das schreckliche Stöhnen einer Frau, die Qualen leidet. Aurox wappnete sich innerlich, schöpfte Mut aus dem Einstrom der Elemente und stahl sich schnell und lautlos in den Hauptraum der Penthouse-Suite.
Er hatte geglaubt, darauf vorbereitet zu sein, was er sehen würde. Er hatte gewusst, dass Neferet Grandma Redbird in einen Käfig aus Finsternis gesperrt hatte. Er hatte gewusst, dass sie Angst und Schmerzen leiden würde. Aber es war schlimmer, als er sich je hätte vorstellen können. Doch er wagte es, Grandma nur einen Blick zu schenken – ihr nur einen Herzschlag lang in die gepeinigten Augen zu sehen. Dann konzentrierte er sich ganz auf Neferet.
Sie schien ihn nicht einmal zu bemerken. Sie lag mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen nach oben gedreht, auf der großen schwarzen, halbkreisförmigen Couchgarnitur und lachte. Um sie herum wimmelte es von Fühlern der
Weitere Kostenlose Bücher