Verloren: House of Night 10 (German Edition)
Sie ist unsere Zeugin.«
»Wie schade, dass Kalona sich zuerst gegen seine Hohepriesterin gewandt hat.«
»Damit kommen Sie nicht durch!«, schrie ich sie an.
Sie lachte und winkte lockend mit dem Finger. Die Kreaturen, die aus dem Leib der Bestie gequollen waren, warfen sich mit neuer Gewalt gegen die Elementsphäre.
Shaunee stolperte, und ihre Hand löste sich aus meiner. Das elementare Gefängnis der Bestie verlor an Helligkeit.
»Sorry, Z, ich schaff’s nicht mehr«, stöhnte Damien, ließ mich los, brach in die Knie und übergab sich.
Die Sphäre zitterte.
In mir begann etwas zu ziehen, und ich wusste, dass ich bald auch das Geistelement verlieren würde. Dann wäre die Bestie frei.
»Werd erwachsen, Zoey. Diesmal wirst du das Blatt nicht wenden können«, sagte Neferet.
Weit hinter mir schrie Stark etwas. Darius und Rephaim standen Seite an Seite vor dem offenen Aufzug und hackten auf die Fäden der Finsternis ein, die hineinzuzüngeln versuchten.
Aber all das schien auf einmal sehr weit weg zu sein, denn Neferets letzte Worte hallten mir wieder und wieder durch den Kopf. Das Blatt wenden … ich wende das Blatt …
Und da erinnerte ich mich. Es ist kein Gedicht! Es ist ein Zauberspruch!
Als ich wieder spürte, wie der Geist den Halt verlor, trat ich vor. Ich zog das gefaltete Stück Papier aus meiner Jeanstasche, und in diesem Moment begann der Seherstein, vor Hitze zu glühen.
Ich hatte nicht die Zeit, mir klarzumachen, was ich da tat. Ich konnte nur handeln. Ich zerrte den Stein hervor und hielt ihn vor mich wie einen Schild. Und mit lauter, von Panik und Macht erfüllter Stimme rezitierte ich:
»Zauberspiegel
Zeitenspiegel
Tief versteckt
Grauer Schleier
Lichter, freier
Wird geweckt
Nebel verwehen
Im Ruf der Feen
An ihrer statt
Wird eingefangen
Was lang vergangen –
Ich wende das Blatt!«
Ich blickte durch den Seherstein – und die Welt schien kopfzustehen. Ich hielt keinen kleinen, apfelringförmigen Stein mehr in der Hand. Er war zu einer großen, glatten Scheibe geworden. Ich kapierte erst, was es war, als ich sah, wie das Zimmer sich düster glitzernd darin spiegelte.
»Du willst mich mit einem Spiegel bekämpfen?«
Ich zögerte keine Sekunde. Ich kannte die Antwort. »Ja«, sagte ich unbeirrt. »Genau das werde ich tun.« Den Spiegel fest in beiden Händen, drehte ich mich zu Neferet um.
Sie war aufgestanden und glitt auf mich zu. Mit einem grausamen Lachen warf sie einen verächtlichen Blick in den Spiegel – und da veränderte sich ihre gesamte Haltung. Ihr Kopf begann sich zu schütteln. Ihr Mund öffnete sich, und mit einem Wimmern taumelte sie zurück wie von einem unsichtbaren Hieb getroffen. Verblüfft reckte ich den Kopf und sah mir ihr Spiegelbild an.
Es war eine Neferet, die ich nicht kannte. Sie war jung – höchstens so alt wie ich. Und sie war schön, wunderschön, auch wenn ihr langes grünes Kleid auseinandergerissen worden war und man ihrem Körper darunter ansah, dass sie geschlagen worden war. Und zwar richtig übel. Ihr Gesicht war unberührt und perfekt. Aber ihre Brüste waren von etwas übersät, was aussah wie Bissspuren. Ihre Handgelenke waren nur noch Blutergüsse, schwarz und geschwollen. Und am schlimmsten war das Blut, das ihr zwischen den Schenkeln herablief und zu Boden tropfte.
»Nein!«, schluchzte Neferet. »Nicht das! Nie wieder!« Sie schlug die Hände vors Gesicht und gab einen schrillen, verzweifelten Schrei von sich. Und während die Tsi Sgili am Boden zerstört zu weinen begann, lösten sich ihre Fühler der Finsternis eines nach dem anderen auf.
»Geist!«, rief ich meinem Element zu, dem einzigen, das die Bestie noch in der schwindenden Sphäre aus Macht festhielt. »Lass ihn gehen.« Den Spiegel immer Neferet zugewandt, ging ich auf sie zu. »Aurox!« Bei meinem Ruf wandte die Bestie den Blick von Grandma ab und sah mich an. »Die Finsternis hat keine Macht mehr über dich. Komm zurück zu uns! Du kannst es!« Er schüttelte den missgestalteten Kopf. Ich näherte mich ihm immer weiter. Er begann, mich zu umkreisen. Ich sah ihm unbeirrt in die mondsteinfarbenen Augen. »Geist! Halt ihn nicht fest – hilf ihm!«
Ich spürte, wie das Element in ihn eindrang. Er stolperte und fiel auf ein Knie. Wütend brüllte er auf.
»Kämpf dagegen an!«, wetterte ich. »Du bist mehr als ein Wesen aus Finsternis!«
Er hob den Kopf, und in mir stieg Hoffnung auf. Seine Haut zuckte und bebte. Er verwandelte sich!
»Vorsicht, Z!«,
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