Verloren: House of Night 10 (German Edition)
gleich in Tränen ausbrechen. »Ich will sie nicht enttäuschen. Ich will diese Gabe so nutzen, wie sie es will.«
Ich merkte, dass sie total aufgewühlt war, und sie tat mir leid – vor allem, weil ich teilweise daran schuld war, dass sie aufgewühlt war. »Hey, Shaylin, ist schon okay. Ich weiß, wie es ist, wenn man eine Gabe hat, die einem wie eine Riesenverantwortung vorkommt, und damit keinen Mist bauen will. Himmel, du hast die unangefochtene Siegerin der Weltmeisterschaft im Mistbauen vor dir.« Ich verstummte und fügte hinzu: »Das, weswegen ich gerade so verwirrt bin, gehört auch dazu. Ich will nicht noch eine unreife, blöde, falsche Entscheidung treffen. Was ich tue und sage, hat Auswirkungen auf viel mehr Leute als nur auf mich. Wenn ich Mist baue, hat das womöglich einen Dominoeffekt, und eine Menge Vampyre, Jungvampyre und Menschen müssen darunter leiden. Das ist total ätzend, aber es ändert nichts daran, dass ich eine Gabe von Nyx habe und die Verantwortung dafür trage, wie ich damit umgehe.«
Darüber dachte Shaylin eine Weile nach, während ich meine Cola trank. Ich stellte fest, dass ich es richtig nett fand, mich mit ihr zu unterhalten. Es war viel besser, als sich Gedanken über Aurox und Heath und Stark und Neferet und –
»Pass mal auf«, unterbrach sie meine zum Glück nicht besonders grüblerische Grübelei. »Was ist, wenn ich sehe, dass sich die Farben von jemandem verändern? Sollte ich das jemandem erzählen – zum Beispiel dir?«
»Was meinst du? Dass du zu mir kommst und sagst: Hey, Zoey, deine Farben sind total verschwommen, was ist los?«
»Schon, vielleicht, aber nur, wenn ich mit demjenigen befreundet bin. Ich dachte eher an heute, als ich Nicole sah. Ihre Farben waren vorher genau wie die von allen Dallas-Leuten – blutähnlich vermischt mit Brauntönen und Schwarz, wie irgendwas, was blutend in einem Sandsturm liegt. Aber heute Nacht bei den Stallungen waren ihre Farben anders. Da war immer noch ein Rostrot, aber es sah heller und klarer aus, auf eine schöne Art. Als würde es sauberer. Und was komisch war: Es kam mir so vor, als wäre da auch ein bisschen Blau. Aber nicht himmelblau, eher wie das Meer. Da dachte ich, vielleicht wird das Böse in ihr irgendwie weggewaschen, und als ich es gedacht hatte, kam es mir richtig vor.«
»Also, das hört sich schon ziemlich wirr an, Shaylin.«
»Für mich nicht! Mir kommt’s immer weniger wirr vor. Ich weiß manche Sachen einfach.«
»Verstehe, und ich glaube auch, dass du von allem, was du da sagst, überzeugt bist. Aber das Problem ist, dass dein Wissen so subjektiv ist. Als würdest du das Leben benoten, und die Leute sind die Klausuren, aber statt Ja-Nein-Antworten, bei denen man sofort weiß, was richtig und falsch ist, sind es immer Essays. Und das heißt, deine Note kann von tausend Dingen abhängen. Und nichts davon ist schwarz oder weiß.« Ich seufzte. Mein Kopf schwirrte von meinem eigenen Vergleich.
»Aber Zoey, das Leben ist nicht schwarz und weiß, und die Leute auch nicht.« Sie nippte an ihrem Getränk, und ich sah, dass es farblos war. Ich dachte kurz, dass ich farblosen Sprudel nie verstehen würde – es war kein Koffein drin, und er kam mir nie süß genug vor –, da sprach sie weiter: »Aber ich verstehe, was du mir sagen willst. Du glaubst mir, dass ich die Farben von Leuten sehe. Du bist dir nur nicht sicher, ob ich sie richtig beurteile.«
Ich wollte schon verneinen und etwas sagen, was sie aufbaute, da schien mich tief drinnen etwas anzustupsen und zu drängen, die Wahrheit zu sagen. Shaylin brauchte sie. »Ja, im Prinzip ist es so.«
Sie straffte die Schultern und reckte das Kinn vor. »Also, ich glaube, dass meine Beurteilungen gut sind. Ich glaube auch, sie werden ständig besser, und ich will meine Gabe dazu nutzen, um euch zu helfen. Ich weiß, dass irgendwas ganz Übles auf uns zukommt. Ich hab gehört, was Neferet deiner Mom angetan hat und dass sie sich der Finsternis verschrieben hat. Du wirst jemanden wie mich brauchen können. Ich kann in die Leute reinschauen.«
Sie hatte recht. Ich brauchte ihre Gabe, aber ich musste auch wissen, ob ich ihrem Urteil vertrauen konnte. »Okay, dann machen wir es doch erst mal so: Du hältst die Augen offen. Und du sagst mir Bescheid, wenn sich jemandes Farben verändern.«
»Dann will ich zuerst über Nicole berichten. Erik hat mir einiges über sie erzählt. Ich weiß, dass sie bisher total fies war. Aber die Wahrheit liegt in ihren
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