Verloren: House of Night 10 (German Edition)
sicherer und kräftiger wurde er. »Mein Mentor William Chidsey war eine bewundernswerte Person. Er war freundlich. Er war klug. Also, wirklich klug. Und begabt. Er war immer für mich da. Eigentlich war er mir eher ein Vater als ein Mentor.« Stark hielt inne und rieb sich das Gesicht. Als er weitersprach, klang es, als wäre er allein mit dem Reporter – als hätte er vergessen, dass die Kamera auch noch da war. »Also, Adam, schon ziemlich früh – nach menschlichen Begriffen in der zehnten Klasse – habe ich herausgefunden, dass ich diese Gabe habe.« Er betonte das Wort nicht sarkastisch, aber auch nicht ehrfürchtig. Es hörte sich an, als betrachte er seine Gabe als Verantwortung, und nicht einmal als eine, mit der man sich brüsten konnte. »Ich kann mein Ziel nicht verfehlen.« Als Adam ihn fragend ansah, erklärte er: »Ich bin Bogenschütze – Sie wissen schon, Pfeil und Bogen. Also, egal, worauf ich ziele, ich treffe es. Leider ist diese Aussage nicht so wörtlich zu nehmen, wie sie klingt. Überlegen Sie mal – zwischen dem, worauf man mit dem Pfeil zeigt, dem, was man zu treffen wünscht, und dem, was man damit erreichen will, ist ein Riesenspielraum. Ein einfaches Beispiel: Sie nehmen einen Bogen, legen einen Pfeil auf, zielen auf ein Stoppschild und denken: Ich will das Ding treffen, das die Autos anhält. Und schon bohrt sich Ihr Pfeil durch den Kühlergrill des nächsten Autos.«
»Okay, ich verstehe, dass das sehr problematisch sein kann.«
»Ja, und zwar extrem. Ich habe lange gebraucht, bis ich heraushatte, wie es funktioniert und wie ich damit umgehen muss. Und währenddessen habe ich einen folgenschweren Fehler gemacht.« Stark hielt wieder inne. Ich drückte ihm die Hand und versuchte, ihm dadurch zu vermitteln, dass ich ihn unterstützte. »Deswegen ist mein Mentor ums Leben gekommen. Aber so etwas werde ich nie wieder geschehen lassen. Das habe ich geschworen.«
»Und aus diesem Grund ist James Stark hier im House of Night von Tulsa«, nahm Thanatos den Faden wieder auf, und die Kamera richtete sich auf sie. »Wir in Tulsa glauben an zweite Chancen.« Ihr Blick fand Aphrodite. Ich musste mich schwer beherrschen, damit mir nicht der Mund offen stehenblieb, als sie sanft weitersprach: »Würdest du nicht auch sagen, dass das hier ein wunderbarer Ort für zweite Chancen ist, Aphrodite LaFont?«
Ich hätte mir keine Sorgen machen müssen. Vor laufender Kamera war Aphrodite total in ihrem Element. Sie stand auf, machte (natürlich) einen Schritt auf die Kamera zu und sah Thanatos an. »Ich kann Ihnen nur aus ganzem Herzen zustimmen, Hohepriesterin. Ich war fast vier Jahre lang ein Jungvampyr, aber unsere gnädige Göttin Nyx beschloss, mir mein Mal wieder zu nehmen und mir dafür eine prophetische Gabe zu verleihen. Meine Eltern sind mit meiner Entscheidung einverstanden, am House of Night zu bleiben. Tatsächlich war schon die Rede von einem Praktikum beim Hohen Rat in Venedig, sobald ich die Schule beendet habe. Meine Eltern unterstützen mich da voll und ganz.« Sie grinste in die Kamera. »Das sieht man schon, wenn man sich unsere Kreditkartenrechnungen über die letzten Monate anschaut. Mann, ich habe so unglaublich coole Eltern!«
Also ehrlich – das war ein so schreiender Müll im Quadrat, dass ich kein Wort herausgekriegt hätte. Zum Glück war Stevie Rae nicht ganz so anfällig für spontanen Sprachverlust.
»Wo wir schon bei coolen Eltern sind, meine Mom, Ginny Johnson, backt die besten Chocolate-Chip-Cookies im ganzen Universum, und die wird sie auch spenden, wenn wir demnächst unseren Tag der offenen Tür mit Kuchenverkauf haben, stimmt’s, Thanatos?«
Thanatos ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Du hast vollkommen recht, Stevie Rae. Sofern der stürmische Winter hier in Oklahoma es erlaubt, werden wir an diesem Wochenende einen Tag der offenen Tür auf unserem Campus abhalten. Dazu werden wir auch Street Cats einladen, die sich hoffentlich mit zur Adoption stehenden Katzen präsentieren werden. Alle Einnahmen aus dem Kuchenverkauf«, sie lächelte Stevie Rae an, »werden übrigens an Street Cats gehen, das von unserer Schule unterstützt wird. Außerdem wird die Großmutter unserer Jungvampyr-Hohepriesterin Zoey Redbird hier auf dem Campus ihre Lavendelprodukte anbieten.«
»Vergessen Sie nicht die Jobbörse.«
Wir alle, einschließlich des Kameramanns, drehten uns um. Da stand Lenobia, ihre wunderschöne schwarze Stute Mujaji am Zügel, die einfach nur
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