Verloren in deiner Sehnsucht: Roman (German Edition)
nachdenklich aus. »Aber wenn etwas von Euch verloren gegangen ist«, fügte sie hinzu, »vielleicht muss es nur wiedergefunden werden? Ich weiß, wie das ist. Auch ich habe mich einmal verloren – meine Freude, meine Zuversicht –, alles, was mich ... nun ja, alles, was Antonia ausgemacht hat. Wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht alles zurückbekommen, aber ich habe noch immer Hoffnung ... für irgendwann. Ist es nicht das, wonach wir alle streben? Einfach nur das zu sein, was wir sein sollen?«
Gareth wandte den Blick ab. »Ich bin glücklich mit dem, was ich bekommen habe«, entgegnete er.
Antonia richtete sich auf. »Nun, dann sagt mir, welches Euer Zimmer war, als Ihr hier gewohnt habt«, sagte sie mit heller Stimme.
Er ging auf die Tür zu, und sie folgte ihm. »Dieses hier«, sagte er. »Ich liebte die breite Fensterbank, die gleichzeitig die Truhe für meine Spielsachen war – für die wenigen, die ich besaß. Aber das Bett hat mir eine Heidenangst gemacht.«
Antonia schaute es sich mit einem theatralischen Schaudern an. »Großer Gott, es stammt aus dem Mittelalter, nicht wahr? Dieser schreckliche Holzbaldachin. Als Kind fühlt man sich darin vermutlich gefangen.«
Gareth lachte. Er war seltsam erleichtert, dass jemand seine damaligen Gefühle verstand. Er ertappte sich dabei, dass er ihr von den Gedanken und den Albträumen seiner Kindheit erzählte. Dass er geglaubt hatte, Kobolde würden unter seinem Bett wohnen und Geister sich im Schrank verstecken. Davon, wie absolut still es nachts hier war und wie sehr diese Stille ein Kind erschrecken konnte, das nur den Lärm und die Geschäftigkeit Londons gewohnt war.
Während sie sich unterhielten, gingen sie durch das Zimmer, und Antonia hob die Ecken der Schonüberwürfe an, um zu sehen, was sich darunter verbarg. »Ihr Armer«, sagte sie, als er geendet hatte. »Das Schicksal hat Euch an einen seltsamen Ort verschlagen, um dort zu wohnen. Ein Ort so ganz und gar anders als die Stadt, die Ihr gewöhnt wart. Als mein Mann und ich aufs Land zogen, hatte Beatrice große Angst vor –«
Gareth wandte sich zu ihr um. Antonias Gesicht war kalkweiß geworden, ihre Augen waren groß und rund. Er nahm sie sanft an der Hand und zog sie zu sich. »Beatrice hatte Angst wovor?« Er spürte, dass es wichtig war, sie weitersprechen zu lassen. »Sagt es mir, Antonia. Wer war Beatrice? Und was hat ihr Angst gemacht?«
Antonia schluckte mühsam und riss ihren Blick von ihm los. »Beatrice ... Sie war meine Tochter«, presste sie hervor. »Sie hatte Angst vor den hohen Hecken. Ich ... ich sollte nicht von ihr erzählen.«
Gareth hielt noch immer ihre Hand. »Wer hat Euch das gesagt?«, verlangte er sanft zu wissen. »Wer hat gesagt, Ihr sollt nicht von ihr sprechen?«
»Niemand will das hören«, sagte sie. »Papa sagt, dass der Kummer einer anderen Person höchst langweilig ist.«
»Ihr habt meinem eine Viertelstunde lang zugehört«, sagte er. »Habt Ihr Euch dabei gelangweilt?«
»Macht Euch nicht über mich lustig.« Sie sprach jetzt sehr schnell, und in ihren Augen lag wieder dieser Ausdruck – der dem eines scheuen Füllens ähnelte. »Ich versuche ... ich versuche nur mein Bestes zu tun.«
Er führte sie zu der breiten Fensterbank und drängte sie, sich zu setzen. »Beatrice hatte also Angst vor den Hecken?«, fragte er. »Weil sie so hoch waren?«
Antonia schluckte angestrengt. »Ja. Sie ... sie haben manchmal die Sonne verdeckt. Und die Bäume, deren Äste über den Weg hängen, auch die haben sie geängstigt. Und jetzt denke ich an sie, daran, wo sie ist, und daran, wie sehr sie sich fürchten muss.« Ihre Stimme brach mit einem Schluchzen ab, und sie presste die zitternden Fingerspitzen auf den Mund. »Ich weiß, dass sie wieder zu mir will. Und ... und ich habe Angst – oh, Gabriel! –, ich habe so große Angst, dass um Beatrice herum nur Dunkelheit ist.«
Gareth legte den Arm um ihre Taille. Vieles wurde ihm jetzt klar. Er wusste, wie es war, Angst zu haben. Ein Kind zu sein, verloren und ohne jede Hoffnung. Doch Antonias Kind befand sich ganz offensichtlich jenseits dieser irdischen Mühsal. »Beatrice ist nicht im Dunkeln«, flüsterte er. »Sie ist im Licht, Antonia. Sie ist im Himmel, und sie ist dort sicherlich glücklich.«
»Ist sie wirklich im Himmel?« Antonia atmete schneller. »Können wir das denn wissen? Haben die Juden einen Himmel? Und selbst wenn, könnt Ihr dann wissen, dass Beatrice wirklich dort ist? Wie? Und was, wenn ...
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