Verloren in deiner Sehnsucht: Roman (German Edition)
Junge.« Die Duchess umkreiste ihn, als begutachtete sie eine Statue. Die dünnen Absätze ihrer Schuhe klackerten laut auf dem Marmorboden.
Der Junge schluckte mühsam, die Galle brannte ihm in der Kehle. Und als wäre die fünf Meilen lange Reise am Morgen in einem nicht besonders stabilen Farmkarren noch nicht Folter genug gewesen, beugte sich die Duchess jetzt auch noch zu ihm herunter, um ihm einen harten Stoß in den Magen zu versetzen. Seine Augen weiteten sich, aber er blieb so aufrecht stehen, wie es ihm möglich war, und zwang sich, unterwürfig zu Boden zu starren.
»Nun, robust genug sieht er aus«, stellte die Duchess nachdenklich fest und warf einen kurzen Blick zu ihrem Gatten. »Er scheint kein Schwächling zu sein. Und angemessen bescheiden gibt er sich auch. Zumindest ist er nicht verwahrlost.«
»Ihr habt recht«, pflichtete der Duke seiner Gattin lässig bei. »Zudem sieht er Major Ventnor ähnlich, Gott sei Dank, vor allem mit den schlaksigen Beinen und den hellblonden Haaren.«
Die Duchess wandte der alten Frau, die den Jungen gebracht hatte, den Rücken zu. »Nun, Warneham, welche Wahl bleibt uns?«, fragte sie. »Wir dürfen die christliche Nächstenliebe nicht außer Acht lassen. Mit Verlaub natürlich, Mrs. Gottfried.« Die letzten Worte hatte sie achtlos über die Schulter gesprochen.
Die alte Frau beobachtete von ihrer Ecke aus abschätzend den Duke, der sein attraktives Gesicht vor Zweifel und Widerwillen verzog. »Christliche Nächstenliebe!«, wiederholte er. »Warum ist es nur immer die christliche Nächstenliebe, auf die geachtet werden soll, wenn man sich Unannehmlichkeiten gegenübersieht?«
Die Duchess faltete anmutig die Hände. »Ihr habt natürlich recht, Warneham«, pflichtete sie ihm bei. »Aber das Kind ist von Eurem Blut – zumindest zu einem sehr kleinen Teil.«
Der Duke schien an dem Hinweis seiner Gattin Anstoß zu nehmen. »Wohl kaum!«, widersprach er brüsk. »Er kann nicht hier bleiben, Livie. Wir können nicht zulassen, dass jemand wie er das Schulzimmer mit Cyril teilt. Was würden die Leute sagen?«
Die Duchess eilte an die Seite ihres Mannes. »Natürlich nicht, mein Lieber«, besänftigte sie ihn. »Das kommt ganz und gar nicht infrage.«
Als Mrs. Gottfried sich erhob, schmerzten ihre arthritischen Knie. Trotzdem knickste sie vor dem Ehepaar. »Habt Mitleid, Euer Gnaden«, bat sie. »Der Vater des Jungen ist im Kampf für England in Rolica den Heldentod gestorben. Gabriel hat niemanden, an den er sich sonst wenden könnte.«
»Niemanden?«, wiederholte die Duchess scharf, während sie ihr einen weiteren herablassenden Blick über die Schulter zuwarf. »Wirklich? Habt Ihr denn keine Familie in England, Mrs. Gottfried?«
Die alte Frau knickste erneut demütig. »Keine direkten Blutsverwandten, Euer Gnaden«, murmelte sie und bereitete sich darauf vor, ihren einzigen Trumpf auszuspielen. »Aber die würden Gabriel natürlich bei sich aufnehmen und ihn als einen der unseren aufziehen – wenn das Euer Wunsch ist.«
»Nein, bei Gott, das ist es nicht!« Warneham sprang abrupt von seinem Stuhl auf und begann auf und ab zu gehen. Er war ein eleganter Mann, noch jung und dynamisch, und bewegte sich wie jemand, der in den Adelsstand hineingeboren worden war. »Ventnor sei verflucht dafür, dass er uns in eine so unerträgliche Lage gebracht hat, Livie«, fuhr er fort. »Wenn ein Mann eine unpassende Ehe eingeht, dann hat er bei Gott kein Recht, fortzuziehen und sich irgendwo im Ausland totschießen zu lassen, König hin oder her. Das ist meine Meinung dazu.«
»Ganz recht, mein Lieber«, gurrte die Duchess. »Aber für Vorhaltungen ist es nun zu spät. Der Mann ist tot, und jemand muss sich um das Kind kümmern.«
»Nun, hier auf Selsdon Court kann der Junge nicht wohnen«, machte der Duke erneut seinen Standpunkt klar. »Wir müssen auch an Cyril denken. Was würden die Leute sagen?«
»Dass Ihr ein anständiger Christenmensch seid?«, schlug seine Frau sanft vor, bevor sie schwieg. Dann klatschte sie plötzlich wie ein kleines Kind in die Hände. »Warneham, ich habe die Lösung! Er wird im Witwenhaus wohnen. Mrs. Gottfried kann sich um ihn kümmern, und wir können diesem seltsamen kleinen Vikar – ach herrje, wie war noch gleich sein Name?«
»Needles«, erwiderte der Duke aufgebracht.
»Ja, richtig, Needles«, sagte die Duchess. »Wir können ihm Bescheid sagen, dass er vorbeikommen und das Kind unterrichten soll.« Sie drängte ihren Mann sanft
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