Verloren in deiner Sehnsucht: Roman (German Edition)
Treppenabsatz angekommen, sah er auf den ersten Blick, dass das Holz verrottet war. Gareth trat vorsichtig auf die Stufen und hielt sich dabei dicht an der Wand. Die erste Etage ähnelte dem Erdgeschoss, befand sich aber in etwas besserem Zustand, da es hier oben nicht so feucht war. Den vier Zimmern war etwas mehr Fürsorge zuteil geworden, große Leinentücher verbargen die langen, schweren Vorhänge. Die Betten standen an ihrem üblichen Platz, Schonbezüge waren ordentlich über die Matratzen gebreitet und alles Bettzeug darunter entfernt worden.
Im Zimmer seiner Großmutter waren die Vorhänge jedoch abgenommen worden, sodass nun die Mittagssonne hell durch das Fenster fiel. Fast wirkte der Raum, als würde er noch bewohnt werden. Die Feuchtigkeit war nur als leichter Modergeruch wahrzunehmen. Der Sekretär seiner Großmutter stand nicht abgedeckt vor der Fensterfront. Gareth trat zu dem Bett und schlug den Leinenbezug zurück. Hierher war er während der ersten Monate auf Knollwood so oft mitten in der Nacht gekommen, damit ihn seine Ängste nicht so sehr plagten und seine Dämonen zurück in ihre Schränke gesperrt wurden. Unvermutet erfüllte ihn das Gefühl der Wehmut – und des Verlustes.
In seinem alten Zimmer betrachtete Gareth das von einem Baldachin überspannte Bett aus Eichenholz, und einige erschreckende Augenblicke lang fühlte er sich wieder wie der neunjährige Junge, der er gewesen war, als sie hier eingezogen waren. Er schauderte. Der Baldachin hatte ihm als Kind Angst eingeflößt. Dunkel, schwer und geheimnisvoll hatte er über ihm geschwebt, alles Licht abgeschirmt. Irgendwann hatte er sich auch daran gewöhnt. Er hatte keine andere Wahl gehabt.
Gefangen in seinen Grübeleien nahm Gareth nur vage ein Geräusch war. Mäuse, so vermutete er. Der laute, erschrockene Aufschrei, der folgte, stammte jedoch eindeutig nicht von einer Maus.
Gareth eilte zur Treppe und hörte im gleichen Moment das Splittern von Holz. Antonia klammerte sich mit beiden Händen an das Treppengeländer, der Saum ihres schwarzen Reitkostüms hing an der Stufe darüber fest. »Bewegt Euch nicht«, befahl er.
Ihr Gesicht war vor Schreck verzerrt. »Ich kann nicht!«, rief sie. »Oh, Gabriel! Ich kann meinen Fuß nicht befreien!«
Gareth tastete sich langsam die Treppe hinunter und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Bewegt Euch nicht, Antonia«, wiederholte er. »Stützt Euer Gewicht auf das Geländer, nicht auf Eure Füße. Ich werde Euch in Sicherheit bringen.«
Sie nickte heftig, mit weit aufgerissenen Augen. »Ja.«
Er näherte sich ihr mühelos, verlagerte sein Gewicht in Richtung der Wand, beugte sich zu Antonia hinüber und legte seine rechte Hand nahe der ihren auf das Geländer. »Wie tief seid Ihr mit dem Bein eingebrochen?«
»Bis – bis zum Knie«, sagte sie. »Fast.«
Rasch machte sich Gareth von der Situation ein Bild. »Haltet Euch weiter am Geländer fest«, wies er sie an. »Ich werde Euren Rock ein wenig anheben.«
Sie war mit dem Bein – einem sehr schönen, wohlgeformten Bein – durch das verrottende Holz gebrochen. Ein zersplittertes Stück Treppenstufe hatte sich in der Zunge ihres Reitstiefels verfangen und zwängte sie ein. Unter der Stufe war es so dunkel, dass Gareth die Kellertreppe nicht erkennen konnte. Vielleicht war sie bereits eingestürzt? Verdammte Hölle.
»Steht Ihr noch einigermaßen sicher?«, fragte er und zwang sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.
Sie nickte und biss sich auf die Unterlippe. Irgendwo unter ihnen knarrte es bedrohlich, dann folgte das Splittern von Holz.
Du lieber Gott. Sie würde in den Keller stürzen und er höchstwahrscheinlich mit ihr. »Lasst das Geländer nicht los«, sagte Gareth ruhig. »Ich werde das zersplitterte Holz entfernen und Euch dann den Arm um die Taille legen, um Euch hochzuheben.«
Ihr Lachen klang hysterisch. »Und das könnt Ihr?«, fragte sie. »Es scheint, dass ich in letzter Zeit einige Pfunde zugelegt habe.«
Gareth lächelte ermutigend. »Ihr seid leicht wie eine Feder, meine Liebe«, entgegnete er. »Die Stufen sind in der Mitte verrottet, deshalb seid Ihr eingebrochen.«
»Oh.«
Gareth trug noch seine Reithandschuhe, ein glücklicher Umstand, der das Entfernen des zersplitterten Holzes erleichterte. Als das letzte Stück aus ihrem Schuh herausgezogen war, streifte er den Handschuh ab und legte den linken Arm um ihre Taille. Als er sie hochhob, geriet Antonia nicht in Panik, wie er es befürchtet
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