Verloren unter 100 Freunden
häufig geschieht dies auf subtilere Weise – zum Beispiel durch den verstohlenen Blick auf ein Mobilgerät beim Essen oder in einer Besprechung. Eine Örtlichkeit pflegte früher einen physischen Raum und die darin befindlichen Menschen zu umfassen. Was ist eine Örtlichkeit, wenn jene, die dort körperlich anwesend sind, ihre Aufmerksamkeit auf Abwesende richten? In einem Café in der Nähe meiner Wohnung hängt fast jeder am Laptop oder Smartphone, während er seinen Kaffee trinkt. Ich kenne diese Leute zwar nicht, aber irgendwie vermisse ich trotzdem ihre Anwesenheit.
Unsere neue Raumerfahrung wird offensichtlich, wenn wir verreisen. Von zu Hause wegzugehen war immer eine Methode, seine eigene Kultur mit neuen Augen zu sehen. Was aber, wenn wir durch die Vernetzung unser Zuhause mitnehmen? Die Leiterin eines Programms, bei dem amerikanische Studenten an spanische Universitäten geschickt werden, beklagte sich einmal darüber, dass ihre Schützlinge »Spanien gar nicht kennen lernten«, weil sie ihre Freizeit auf Facebook verbrachten, wo sie mit ihren Freunden zu Hause chatteten. Ich fühlte mit ihr beim Gedanken an die Stunden, in denen ich zusammen mit meiner Teenager-Tochter auf einer Reise nach Paris spazieren ging; es war der Sommer, in dem sie ihr erstes Handy bekommen hatte. Während wir in einem Café saßen und auf eine Freundin warteten, die sich zum Essen mit uns treffen wollte, erhielt Rebecca einen Anruf von einer Schulkameradin, die sich in Boston, sechs Stunden zurück, mit ihr zum Mittagessen verabreden wollte. Meine Tochter sagte einfach nur: »Geht nicht, aber wie wär’s mit Freitag?« Ihre Freundin wusste nicht einmal, dass sie verreist war. Als ich aufwuchs, war die Vorstellung vom »globalen Dorf« noch eine Abstraktion. Meine Tochter lebt sie ganz konkret. Egal wo sie hingeht, sie lässt ihr Zuhause emotional und sozial niemals
hinter sich. Ich fragte sie, ob sie Paris nicht lieber ohne die ständige Erinnerung an Boston kennen lernen wolle. (Dabei ließ ich beiseite, dass ich ja selbst zu diesen Erinnerungen gehörte, und sie sprach es zum Glück auch nicht an.) Sie sagte, sie fände es gut so; sie bleibe gern in Kontakt mit ihren Freunden. Sie schien meine Frage gar nicht richtig zu verstehen. Ich war wehmütig und in Sorge, Rebecca könnte eine Erfahrung entgehen, die ich in meiner Jugend sehr geschätzt hatte: ein unverwässertes Paris-Erlebnis. Mein Paris ging einher mit dem aufregenden Gefühl der Entkopplung von allem, was ich kannte. Das Paris meiner Tochter schloss diesen Abstand nicht mit ein.
Als ich mit Rebecca wieder aus Frankreich zurück war, unterhielt ich mich mit einer engen Freundin, einer Psychoanalytikerin, über die Reise. Unser Gespräch erinnerte sie an ihren ersten Parisbesuch. Sie war damals sechzehn und reiste mit ihren Eltern. Aber während diese mit ihrem jüngeren Bruder eine Sightseeingtour machten, bestand sie darauf, im Hotelzimmer zu bleiben, wo sie lange Briefe an ihren Freund schrieb. Junge Leute balancieren immer zwischen Zusammensein und Trennung; wir müssen uns zur Vertrautheit unserer Bedürfnisse und zum Neuen unserer Lebensumstände bekennen. Das Internet ist mehr als alter Wein in neuen Schläuchen; inzwischen können wir immer woanders sein.
In dem Monat, nachdem wir aus Paris zurückgekommen waren, fiel mir oft auf, dass ich mit Kollegen zusammensaß, die auch ständig woanders waren: eine Vorstandssitzung, auf der Teilnehmer rebellisch wurden, weil man sie aufforderte, ihre mobilen Geräte auszuschalten; ein Fakultätstreffen, bei dem Teilnehmer ihre E-Mails erledigten, bis sie an der Reihe waren zu reden; eine Konferenz, in der sich einige der Zuhörer Internet-Backchannels einrichteten, um noch während eines Vortrags mit anderen Zuhörern über selbigen zu chatten. 4
Seit ich an einer Universität lehre, stoße ich immer wieder auf besonders interessante Beispiele abgelenkter Akademiker. Aber es sind die profaneren Beispiele von Aufmerksamkeitsspaltung, die die Struktur des täglichen Lebens verändern. Eltern checken beim Kinderwagenschieben ihre E-Mails. Kinder und Eltern schreiben beim Mittagessen Textnachrichten. Als ich mir im November 2009 den Jahresmarathon in Florenz ansah, kam eine Läuferin an mir vorbei, die gerade eine SMS schrieb. Natürlich versuchte ich mit meinem Handy ein Foto von ihr zu machen. Nach fünf Jahren hatte mein Konnektivitätslevel schließlich den meiner Tochter eingeholt. Wenn ich heute reise, halte ich
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