Verloren unter 100 Freunden
er sei quasi »mit seiner Ausrüstung verschmolzen«. Schüchtern, mit einem anscheinend durch Nervosität beeinträchtigten Gedächtnis, hatte er das Gefühl, besser zu funktionieren, wenn er bei einem Gespräch mit einer Person die früheren Treffen mit ihr »abrufen« und sich auf diese Weise erinnern konnte, was er damals gesagt hatte. »Damit«, sagte er und meinte seine Ansammlung von Konnektivitätsgeräten, »ist es nicht einfach nur so, dass ich mich an Leute erinnere oder mehr über sie weiß. Ich fühle mich unbesiegbar, ungehemmt, besser vorbereitet. Ohne die Sachen bin ich nackt. Mit ihnen bin ich ein kompetenterer Mensch.« Doch mit der inneren Aufwertung kam auch ein Gefühl der Zerstreutheit. Die Cyborgs waren eine neue Art von Nomaden, die zwischen physischer und virtueller Welt hin und her pendelten. Denn die physische Realität war nur eines von vielen Dingen in ihrem Blickfeld. Schon Mitte der Neunzigerjahre, als sie am Kendall Square in Cambridge herumliefen, konnten die Cyborgs nicht nur das Internet durchsuchen, sondern hatten mobiles E-Mail, Instant Messaging und einen Fernzugriff auf ihre fest installierten Rechner. Die Vielzahl der Welten, in denen sie sich bewegten, hob sie von ihren Mitmenschen ab: Sie konnten bei ihnen sein, waren aber gleichzeitig auch immer woanders.
Innerhalb von zehn Jahren wurde das, was bis dahin exotisch gewirkt hatte, zu unserem Lebensstil, als kompakte Smartphones die komplizierten Ausrüstungen der Cyborgs ersetzten. Die Erfahrung, immer online zu sein, verlieh den Borgs einerseits eine neue Unabhängigkeit, andererseits stellte sie sie auch unter ein neues Joch. Inzwischen sind wir alle Cyborgs.
Die Menschen lieben die neuen Kommunikationstechnologien. Sie haben dafür gesorgt, dass Eltern und Kinder sich sicherer fühlen
und die Geschäftswelt, Erziehung, Forschung und Medizin revolutioniert wurden. Es ist kein Zufall, dass amerikanische Hersteller sich darauf verlegt haben, ihren Handys Namen zu geben, die nach Süßigkeiten und Eiscreme klingen: Schoko, Erdbeer, Vanille. Schließlich sind sie auch eine süße Verlockung. Sie haben unsere Art und Weise, Verabredungen zu treffen und zu reisen, verändert. Die globale Reichweite der Vernetzung kann den entlegensten Winkel der Erde zu einem Zentrum des Lernens und des Wirtschaftslebens machen. Der Begriff »Apps« beschwört die genussvolle, mobile Inanspruchnahme von Funktionen und Dienstleistungen herauf, von denen wir uns einige bis vor kurzem nicht hätten träumen lassen (für mich persönlich ist es eine iPhone-App, die sich ein Lied »anhören«, es erkennen und für den Einkauf vormerken kann).
Darüber hinaus bietet die Vernetzung neue Möglichkeiten des Experimentierens mit der eigenen Identität und, besonders bei Jugendlichen, das Gefühl eines zeitlichen Freiraums, den Erik Erikson Psychosoziales Moratorium nannte. Das ist eine Phase, in der Jugendliche ohne nennenswerte Konsequenzen tun können, was sie für ihre weitere Entwicklung brauchen: sich in Leute und Ideen zu verlieben und sie wieder zu verwerfen. Das wirkliche Leben stellt diese Karenzzeit nicht immer zur Verfügung, das Internet schon.
Kein Hebel bewegt sich, kein Räderwerk dreht sich, um uns von einem Lebensabschnitt in den anderen zu transportieren. Wir können nicht alle Aufgaben unserer Entwicklung zum richtigen Zeitpunkt erledigen – es ist nicht einmal gesagt, dass wir sie überhaupt bewältigen werden. Wir gehen unseren Weg und benutzen das uns zur Verfügung stehende Material, um zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens das Beste daraus zu machen. Wir arbeiten ungelöste Fragen auf und versuchen versäumte Erfahrungen nachzuholen. Das Internet schafft neue Räume, in denen wir das unser ganzes Leben lang tun können, ganz gleich wie unvollkommen es sein mag. Also nutzen
Erwachsene ebenso wie Jugendliche das Internet, um ihre Identität zu finden.
Wenn sich ein Teil des Lebens an virtuellen Orten abspielt – das kann Second Life sein, ein Computerspiel oder die Webseite eines sozialen Netzwerks –, entwickelt sich ein verzerrtes Verhältnis zwischen dem, was wahr ist, und dem, was »hier wahr« ist, in der Simulation. In Spielen, an denen wir in Gestalt eines Avatars teilnehmen, verhalten wir uns oft auf aufschlussreiche Weise wie wir selbst; auf den Seiten sozialer Netzwerke wie Facebook glauben wir uns selbst darzustellen, aber unser Profil ist oftmals jemand ganz anderer – häufig der, der wir gern sein würden.
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