Verloren unter 100 Freunden
aber Signale, die uns suggerieren, wir wären mit jemandem zusammen. Vernetzt sind wir mit vielen Menschen zusammen, haben aber unsere Erwartungen aneinander so heruntergeschraubt, dass wir uns oft völlig allein fühlen. Und es besteht die Gefahr, dass wir andere Menschen als verfügbare Objekte ansehen – oder nur auf den Aspekt von ihnen eingehen, den wir nützlich, tröstlich oder amüsant finden.
Wenn wir uns einmal aus dem Fluss des physischen, schmuddeligen, unordentlichen Lebens entfernen – und das bewirkt sowohl die Robotik als auch das vernetzte Leben –, sind wir weniger bereit, uns wieder hineinzubegeben und etwas zu riskieren. Ein Song, der 2010 auf YouTube bekannt wurde, Do You Want to Date My Avatar? ,
endet mit den Zeilen: »And if you think I’m not the one, logg off, logg off and we’ll be done.« (»Und wenn du glaubst, dass ich nicht der Richtige bin, logg’ dich aus, und wir sind fertig miteinander«, d. Ü.) 3
Die Anziehungskraft, die allein die Aussicht auf Robotergefährten auf uns ausübt, erfordert einen neuen Blick auf das vernetzte Leben. In Teil eins haben wir gesehen, dass Kinder, die mit allzu innigen Gefühlen für soziale Roboter aufwachsen, auf die »Beziehungen mit weniger« vorbereitet sind, die das Internet uns verschafft. Nun wende ich mich der Frage zu, wie uns das Netz auf die von Robotern gebotenen »Beziehungen mit weniger« vorbereitet. Bei beidem geht es um das Ich, das sich an Simulationen bindet und dadurch in die Isolation gerät, und beides ist gleich beunruhigend. Ich habe gesagt, dass wir uns, durch unsere mobilen Geräte ans Netzwerk gefesselt, einem neuen Stadium des Ich annähern. Zunächst genießt dieses Ich gewisse Freiheiten: Es kann sich von seiner physischen Umgebung entfernen – einschließlich der darin befindlichen Menschen. Es kann das Physische und Virtuelle nahezu simultan erleben. Und es ist in der Lage, durch Multitasking Zeit zu vermehren; dies ist die Alchemie des einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Der neue Ich-Zustand: Ausklinken durch Einklinken
Heutzutage hängt Verbundenheit nicht mehr davon ab, wie weit entfernt wir voneinander sind, sondern welche Kommunikationstechnologie uns zur Verfügung steht. Die meiste Zeit über tragen wir diese Technologie mit uns herum. Tatsächlich kann es einem so vorkommen, als wäre Alleinsein die Vorbedingung für das Zusammensein,
weil es einfacher ist zu kommunizieren, wenn man sich, ohne unterbrochen zu werden, auf seinen Bildschirm konzentrieren kann. In diesem neuen System ist ein Bahnhof (ebenso wie ein Flughafen, ein Café oder ein Park) kein kommunaler Ort mehr, sondern nur noch einer des räumlichen Zusammentreffens: Die Leute kommen zusammen, reden aber nicht miteinander. Jeder hängt an einem mobilen Gerät und ist mit den Menschen und Orten verbunden, zu denen es ihm Zugang verschafft. Ich bin in Brooklyn aufgewachsen, wo die Bürgersteige ein besonderes Aussehen hatten. Zu jeder Jahreszeit – selbst im Winter, nachdem der Schnee geräumt war – sah man mit Kreide aufgemalte Himmel-und-Hölle-Kästchen. Ich unterhielt mich mit einer Kollegin, die heute dort wohnt, wo ich herkomme. Die Kästchen sind verschwunden. Die Kinder sind draußen, aber sie hängen an ihren Handys.
Wenn die Leute in der Öffentlichkeit telefonieren, ist ihr Bedürfnis nach Privatheit von der Annahme getragen, ihre Umgebung werde nicht nur weghören, sondern sie gar nicht wahrnehmen. Kürzlich saß ich auf einer Fahrt von Boston nach New York neben einem Mann, der sich mit seiner Freundin über seine Probleme unterhielt. Folgendes erfuhr ich, während ich versuchte nicht zuzuhören: Er hatte unlängst einen Schub schwerer Alkoholsucht, und sein Vater war nicht mehr bereit, ihn finanziell zu unterstützen. Er findet, seine Freundin gibt zu viel Geld aus, und er mag ihre halbwüchsige Tochter nicht. Peinlich berührt ging ich den Gang auf und ab, aber der Zug war voll besetzt. Resigniert kehrte ich zu meinem Platz neben dem nörgelnden Dauertelefonierer zurück. Es war irgendwie beruhigend, dass er sich nicht bei mir beklagte, aber trotzdem hätte ich mich am liebsten unsichtbar gemacht. Das war aber vielleicht gar nicht nötig. Er tat ja sowieso, als wäre ich gar nicht da.
Aber vielleicht ist es sinnvoller, die Sache umgekehrt zu sehen: Es sind die Telefonierer, die sich als abwesend verstehen. Manchmal
signalisieren Leute, dass sie sich ausgeklinkt haben, indem sie sich ein Handy ans Ohr halten, aber
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