Verloren unter 100 Freunden
Unterschiede verschwimmen. Virtuelle Räume bieten uns Kontakte, ohne dass besondere Ansprüche an uns gestellt würden. Wir gehen nicht davon aus, dass unsere Cyberfreunde vorbeikommen, wenn wir krank sind, die Erfolge unserer Kinder mit uns feiern oder uns in der Trauer über den Tod unserer Eltern beistehen. 2 Die Leute wissen das, und doch ist die emotionale Aufladung im Cyberspace hoch. Die Menschen reden über das digitale Leben als »Ort der Hoffnung«, den Ort, an dem etwas Neues auf sie wartet. Früher wartete man auf die Geräusche des Briefträgers – der mit der Kutsche, zu Fuß oder per Lieferwagen kam. Heute hören wir Klingeltöne und checken unsere E-Mails, Texte und Nachrichten.
Die Geschichte meiner eigenen zögerlichen Schritte in Richtung Cyborg-Leben ist banal, ein Beispiel für die heutige Selbstverständlichkeit dessen, was gestern noch exotisch war. Ich habe immer ein Handy bei mir. Jahrelang hatte ich mich geweigert, dies zu tun. Ich spreche nicht gern mit Leuten, mit denen die Verbindung dauernd abreißt, weil sie durch einen Tunnel fahren, gefährliche Kreuzungen überqueren oder in Funklöcher geraten. Ich mache mir Sorgen um sie. Der klare und originalgetreue Klang meines Festnetztelefons scheint mir ein Vorteil demgegenüber zu sein, was ich aus meinem
Handy höre. Außerdem mag ich das Gefühl nicht, immer erreichbar zu sein. Aber jetzt, mit einer Tochter, die im Ausland studiert und erwartet, dass sie mich erreicht, wenn sie mich sprechen will, bin ich froh, über das Internet mit ihr verbunden zu sein. Aus Rücksicht auf eine Generation, die meine Anrufe als Belastung empfindet, weil sie in Echtzeit stattfinden und nicht multitaskingtauglich sind, verschicke ich E-Mails. Und das reichlich unbeholfen.
Aber selbst diese kleinen Dinge erlauben es mir, den Anspruch der Cyborgs auf eine erweiterte Wahrnehmung nachzuvollziehen. Sie hatten das Gefühl, mehr zu sein, wenn sie mit dem Internet verbunden waren. Wie die meisten Leute erlebe ich eine Miniaturversion dieses Wohlgefühls. Ich sehe mir gern die Favoritenliste im Kontakte-Verzeichnis meines iPhones an, in der alle Personen aufgeführt sind, die ich gernhabe. Jeder von ihnen ist nur einen Tastendruck weit entfernt. Wenn jemand keine Zeit hat, mit mir zu reden, kann ich ihm einen Gruß schicken, und er weiß, dass ich an ihn denke, mich um ihn kümmere. Den Nachrichtenaustausch mit meinen Freunden und meiner Familie zu überfliegen versetzt mich stets in gute Laune. Ich bewahre alle SMS auf, die mir meine Tochter in ihrem letzten Highschool-Jahr geschickt hat. Dabei wird mir immer ganz warm ums Herz: »Habe den grünen Pulli vergessen, bitte mitbringen.« – »Kannst du mich am Bootshaus 6 abholen?« – »Bitte Bescheid sagen, dass ich krank bin. Schule langweilig. Will nach Hause.« Und natürlich sind da die Fotos, so viele Fotos auf meinem iPhone – viel mehr, als ich jemals mit einem Fotoapparat machen würde, und alle sind immer griffbereit.
Und doch bringen solche schlichten Freuden Zwänge mit sich, die mich überraschen. Ich schaue morgens als Erstes in meine Mailbox, und bevor ich abends zu Bett gehe, tue ich dasselbe. Dabei habe ich festgestellt, dass es nicht gut ist, den Tag damit anzufangen oder zu beenden, sich über neue berufliche Probleme und Erfordernisse
zu informieren, aber dummerweise kann ich es mir nicht abgewöhnen. Ich gestand meine fortgesetzte Irritation darüber einer Freundin, einer Frau in den Siebzigern, die seit ihren Teenagerjahren jeden Morgen in der Bibel liest. Sie gestand mir, dass es ihr immer schwerer falle, ihre spirituellen Übungen zu machen, ehe sie ihre E-Mails gecheckt hat; die Disziplin, das Öffnen der Mailbox aufzuschieben, gehört inzwischen zu ihrer Andacht. Und auch sie leistet der Schlaflosigkeit Vorschub, indem sie jeden Abend vor dem Zu-Bett-Gehen noch einmal ihre E-Mails kontrolliert.
Wir kümmern uns um das Internet, das (inzwischen) immer eingeschaltet und immer bei uns ist, und das Internet bringt uns bei, es zu brauchen.
Online fühlen wir uns stärker, wie die Cyborgs am MIT. Darin liegt eine Parallele zum Gefühl des »Mehr«, das uns Roboter vermitteln. Aber in beiden Fällen könnten wir uns nach all den Augenblicken des »Mehr« am Ende in einem Leben des »Weniger« wiederfinden. Roboterbeziehungen und Vernetztheit gehen eine Art versuchsweise Symbiose ein: parallele Pfade in den zwischenmenschlichen Rückzug. Mit sozialen Robotern sind wir allein, empfangen
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