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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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persönlich
mit ihm gesprochen hat und dem er in einem Körper erscheint, der nichts von seinem eigenen hat, scheint sein wahres Selbst am ehesten zu akzeptieren.
    Pete genießt den Sonntag auf dem Spielplatz; er ist mit seinen Kindern zusammen und mit Jade. Er sagt: »Meine Kinder wirken zufrieden … Ich habe das Gefühl, bei ihnen zu sein … ich bin für sie da, aber im Hintergrund.« Ich schaue mich auf dem Spielplatz um. Viele Erwachsene teilen ihre Aufmerksamkeit zwischen Kindern und mobilen Geräten auf. Blättern sie ihre E-Mails und Nachrichten von Familienangehörigen, Freunden und Kollegen durch? Sehen sie sich Fotos an? Befinden sie sich mit virtuellen Liebhabern in Parallelwelten?
    Wenn Menschen argumentieren, dass wir schon immer Wege gefunden haben, uns selbst zu entfliehen, dass weder der Wunsch noch die Möglichkeiten dazu erst durch das Internet erschaffen wurden, gebe ich ihnen recht. Petes Online-Leben hat Ähnlichkeit mit den hergebrachten Affären, die viele andere Leute haben. Es ähnelt auch der Art, wie Leute auf Geschäftsreisen oder im Urlaub jemand anderen »spielen« können. Wenn Pete mit einer Hand eine Schaukel anstößt und mit der anderen Nachrichten an Jade tippt, kommt uns das irgendwie bekannt vor: Ein Mann findet, dass ihm eine außereheliche Beziehung etwas gibt, das er in seiner Ehe nicht bekommt. Aber etwas anderes daran ist neu: die Gleichzeitigkeit der beiden Leben, das Ineinander einer virtuellen Liebesaffäre und des mahnenden Rufs an einen Sechsjährigen. Pete sagt, seine Online-Ehe sei ein wesentlicher Teil seines »Lebensmix«. Weil ich diesen Ausdruck noch nie gehört habe, frage ich nach. Pete erklärt mir, der Lebensmix sei die Mischung aus dem, was man online und offline tue. Heute fragen wir also nicht mehr nach der Befriedigung im Leben, sondern nach der Befriedigung im Lebensmix. Wir sind vom Multitasking zum Multileben übergegangen.

    Man braucht mobile Kommunikation, um auf die Idee des »Lebensmix« zu kommen. Bis vor kurzem musste man vor einem Computermonitor sitzen, um den virtuellen Raum zu betreten. Das bedeutete, dass die Reise hinter den Spiegel bewusst stattfand und davon abhing, wie viel Zeit man vor dem Computer verbringen konnte. Jetzt, mit einem mobilen Gerät, betritt man den virtuellen Raum quasi im Vorübergehen. Das macht es uns leichter, unsere Leben als Avatare dazu zu nutzen, mit der Anspannung des täglichen Lebens fertigzuwerden. Wir nutzen soziale Netzwerke, um »wir selbst« zu sein, aber unsere Online-Auftritte entwickeln ein Eigenleben. Unsere Online-Ichs bilden ausgeprägte Persönlichkeiten aus. Manchmal betrachten wir sie als unsere »besseren Ichs«. Wenn wir in sie investieren, wollen wir auch etwas von ihnen haben. Unlängst erhielt ich Visitenkarten, auf denen der echte Name der Leute, ihr Facebook-Pseudonym und der Name ihres Second-Life-Avatars standen (zugegeben: Das mag spezifisch sein für das MIT und sein Umfeld, wo sich besonders technologie-affine Menschen tummeln).
    Beim Thema soziale Roboter habe ich einen Bogen gespannt, der von der Simulation im Sinne eines »Besser als nichts« bis zum »Besser als alles andere« reicht, weil die Simulation einen Gefährten anbietet, der genau die emotionalen Bedürfnisse seines Benutzers erfüllt. Etwas Ähnliches passiert online. Zu Anfang denken wir vielleicht, dass E-Mails, Textnachrichten und Facebook-Botschaften zwar ein schwacher, aber nützlicher Ersatz sind, wenn die Alternative in der spärlichen Kommunikation mit den Leuten besteht, die uns am Herzen liegen. Dann gewöhnen wir uns an die Vorzüge des Vernetzt-Seins – wir können Verbindung aufnehmen, wann und wo immer wir wollen oder es brauchen, und wir können jederzeit wieder aussteigen. Von dort sind es nur ein paar Schritte zu der Auffassung, das Leben auf Facebook sei besser als alles, was man
bisher kannte. Menschen, die dieser Auffassung sind, nutzen die Seite, um ihre Gedanken, ihre Musik und ihre Fotos hochzuladen. Sie vergrößern ihre kommunikative Reichweite in einer kontinuierlich zunehmenden Gemeinde von Bekanntschaften. Egal wie esoterisch ihre Interessen sein mögen, sie sind umgeben von begeisterten Anhängern, möglicherweise aus der ganzen Welt. Egal wie beschränkt die Kultur in ihrem persönlichen Umfeld sein mag, sie sind Kosmopoliten. In diesem Sinne rühmt Pete, wenn er über Second Life redet, dessen internationales Flair und die dem Spiel innewohnenden Bildungsmöglichkeiten. Er macht

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