Verloren unter 100 Freunden
in die Schlacht zieht. Manche Spiele kann man allein spielen – in diesem Fall stehen einem meist künstliche Intelligenzen zur Seite, »Bots«, die die Rolle menschlicher Figuren übernehmen. Oder man kann sich mit anderen Spielern im Netzwerk zusammentun, um neue Welten zu erobern. Das kann ein höchst gemeinschaftliches Unternehmen sein, ein soziales Leben für sich: Man schickt den Leuten, mit denen man spielt, regelmäßig E-Mails oder Kurznachrichten oder chattet mit ihnen.
In einem anderen Genre ist Second Life eher ein virtueller »Raum« als ein Spiel. Hier gibt es kein Gewinnen oder Verlieren, man führt einfach ein Leben. Man fängt an, indem man sich einen Namen für seinen Avatar ausdenkt und ihn zusammensetzt. Dabei arbeitet man mit einem Menü, in dem eine breite Palette von Erscheinungsbildern und Bekleidung zur Auswahl steht. Falls diese nicht ausreichen, kann man sich auch von Anfang an einen individuellen Avatar entwerfen. Sobald man mit dessen Aussehen zufrieden ist, hat man die Möglichkeit, wie Second Life es ausdrückt, auf eine Weise zu leben, die es einem ermöglicht, »sein Leben zu lieben« 8 . Unter anderem kann man eine Ausbildung machen, ein Geschäft eröffnen, Land kaufen, ein Haus bauen und einrichten und natürlich ein gesellschaftliches Leben führen, in dem Liebe, Sex und Eheschließung vorkommen können. Man kann sogar Geld verdienen – die Second-Life-Währung ist in Dollar konvertierbar.
Während sich all das entwickelt, hängt man in Bars, Restaurants und Cafés herum. Man entspannt sich an virtuellen Stränden und hält in virtuellen Konferenzräumen Geschäftsbesprechungen ab. Leute, die viel Zeit in Second Life und anderen Rollenspielen verbringen, sagen häufig, dass sie sich in ihren Online-Identitäten eher wie sie selbst fühlen als in der physischen Realität. Sicher, es ist nur ein Spiel, aber ein ernsthaftes. 9
Historisch ist nichts Neues daran, zu spielen, dass man jemand anders ist. Aber früher waren solche Spiele von einer Veränderung der Umgebung abhängig. Als Teenager habe ich Romane über junge Männer und Frauen verschlungen, die man auf eine Bildungsreise nach Europa schickte, damit sie über eine unglückliche Liebe hinwegkamen. Dort »spielten« sie dann, sie hätten keinen Liebeskummer. Heutzutage sucht Pete, sechsundvierzig, nach einem Leben jenseits seiner unglücklichen Ehe. Dazu braucht er nur sein iPhone einzuschalten.
Ich treffe mich an einem ungewöhnlich warmen Sonntag im Spätherbst mit Pete. Er beschäftigt sich mit seinen beiden Kindern, vier und sechs, und mit seinem Handy, das ihm Zugang zu Second Life verschafft. 10 Dort hat Pete sich einen Avatar geschaffen, einen kräftigen, gutaussehenden jungen Mann namens Rolo. Als Rolo hat Pete einem weiblichen Avatar namens Jade den Hof gemacht, einem zierlichen, koboldhaften Mädchen mit kurzem, stachligem blondem Haar. Als Rolo hat er Jade vor über einem Jahr in einer bombastischen Second-Life-Hochzeitszeremonie »geheiratet«, umgeben von virtuellen besten Freunden. Pete hat die Frau, die sich hinter dem Avatar Jade verbirgt, nie kennen gelernt und will es auch gar nicht. (Natürlich kann der Mensch hinter Jade auch ein Mann sein. Pete weiß das, sagt aber: »Ich will da gar nicht hin.«) Er beschreibt Jade als klug und leidenschaftlich und sagt, man könne gut mit ihr reden.
An den meisten Tagen loggt sich Pete in Second Life ein, bevor er zur Arbeit geht. Jade und er unterhalten sich (indem sie Text eingeben) und lassen dann ihre Avatare erotisch aktiv werden, etwas, das Second Life mit besonderen Animationen möglich macht 11 . Die Grenzen zwischen wirklichem Leben und Spiel sind nicht leicht aufrechtzuerhalten. Online reden Pete und Jade über Sex und Second-Life-Klatsch, aber auch über Geld, die Rezession, die Arbeit und Gesundheitsprobleme. Pete nimmt cholesterinsenkende Medikamente, was nur teilweise Erfolg hat. Er sagt, dass es schwierig sei, mit seiner »echten« Frau Alison über seine Ängste zu reden; sie macht sich dann »zu große Sorgen, dass ich sterben und sie alleinlassen könnte«. Aber mit Jade kann er darüber sprechen. Pete sagt: »In der Second-Life-Welt führe ich eine bessere Beziehung als im wirklichen Leben. Im Netz fühle ich mich am meisten als ich selbst. Jade akzeptiert mich, wie ich bin. Meine Beziehung zu ihr ermöglicht es mir, in meiner Ehe und bei meiner Familie zu bleiben.« Die Ironie ist offensichtlich: Ein Avatar, der ihn nie gesehen oder
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