Verloren unter 100 Freunden
meinen Internet-Zugang offen. Ein gutes Hotel auf der anderen Seite der Welt bietet Sicherheit und Wohlbehagen, aber das ist nicht zu vergleichen mit der Beständigkeit von Online-Verbindungen.
Die Forschung zeigt die Amerikaner als zunehmend verunsichert, isoliert und einsam. 5 Wir arbeiten länger denn je, häufig in mehreren Berufen. Selbst Highschool-Schüler und College-Studenten sagen in Lebensphasen, in denen man eigentlich Zeit im Überfluss haben sollte, dass sie sich nicht verabreden, sondern »sich lieber einklinken«, denn »Wer hat schon so viel Zeit?«. Wir haben uns von den Gemeinschaften unserer Geburt entfernt, häufig weit entfernt. Wir mühen uns ab, unsere Kinder ohne die Unterstützung großer Familien aufzuziehen. Viele haben die religiösen und bürgerlichen Gemeinschaften, die uns einmal zusammenbrachten, hinter sich gelassen. 6 Denjenigen, die das Gefühl körperlicher Verbindungen verloren haben, legt die Konnektivität nahe, sich ihre eigene (Facebook-)Seite, ihren eigenen Raum zu erschaffen. Wenn man dort ist, ist man per definitionem da, wo man hingehört, unter offiziellen Freunden. Diejenigen, die das Gefühl haben, sie hätten keine Zeit, verführt die Konnektivität, ebenso wie der Umgang mit Robotern, indem sie ihnen Ersatz anbietet, durch den man bequem
Gesellschaft haben kann. Ein Roboter ist immer da, unterhaltsam und gehorsam. Im Netz findet man immer jemanden. »Ich kann nie weit von meinem Blackberry entfernt sein«, erzählte mir ein Kollege. »Da drin sind meine Spiele. Da drin sind meine Seiten. Ohne mein Blackberry fühle ich mich verloren.«
Heute besteht unser Maschinentraum darin, niemals allein zu sein, aber stets die Kontrolle zu haben. Das geht nicht, wenn man einem anderen Menschen gegenübersitzt. Mit einem Roboter geht dies sehr wohl, oder auch, wie wir noch sehen werden, indem wir durch die Portale eines digitalen Lebens huschen.
Der neue Ich-Zustand: vom Leben zum Lebensmix
Von Anfang an wurden Technologien, die für den praktischen Informationsaustausch erfunden worden sind, auch für zwischenmenschliche Beziehungen genutzt. So ist zum Beispiel das Arpanet, der Großvater des Internet, entwickelt worden, damit Wissenschaftler gemeinsam an Forschungsunterlagen arbeiten konnten, aber schon bald wurde im Arpanet getratscht, geflirtet und über die eigenen Kinder geredet. Mitte der Neunzigerjahre wimmelte es im Internet von neuen sozialen Welten. Da gab es Chatrooms und Anschlagtafeln und soziale Umgebungen, bekannt als Multiuser-Domains oder MUDs. Bald darauf kamen massenhaft Online-Rollenspiele für viele Mitspieler hinzu wie Ultima 2 und EverQuest, die Vorgänger von Spielwelten wie World of Warcraft. In allen diesen Spielen bauten sich die Leute Avatare – mehr oder weniger aufwendig gestaltete virtuelle Ichs – und lebten Parallelleben. Sie saßen an ihren Computern und hüpften von den Arbeitsunterlagen und Geschäftspapieren ihrer realen Welt in andere Welten, in denen sie
Online-Figuren verkörperten. Auch wenn diese Spiele sehr häufig in Gestalt von mittelalterlichen oder sonstigen Ritterfeldzügen daherkamen, waren die virtuellen Szenarien höchst attraktiv, denn sie boten Gelegenheit zum gesellschaftlichen Austausch, dazu, als die Person zu agieren, die man gerne sein wollte. Wie mir ein Spieler bei einem Abenteuer-MUD in den frühen Neunzigern erzählte, hatte ihn »anfangs vor allem das ›Hauen und Stechen‹ interessiert, aber dann bin ich dabeigeblieben, um zu chatten«. 7
Im Laufe unseres Lebens werden wir mit der Arbeit an unserer Identität niemals fertig; wir überarbeiten sie einfach nur mit den Materialien, die wir gerade zur Hand haben. Die sozialen Welten im Internet haben uns von Anfang an neues Material verschafft. Im Internet gaben sich die schlichten Gemüter als Überflieger aus, die Alten als jung, und die Jungen machten sich älter. Die Mittellosen trugen auserlesenen virtuellen Schmuck. Im virtuellen Raum gingen die Krüppel ohne Krücken, und die Schüchternen nutzten ihre Chancen als Verführer. Heutzutage sind Online-Spiele und -Welten zunehmend komplizierter konstruiert. Das bekannteste »Bezahlspiel«, World of Warcraft, versetzt einen, zusammen mit 11,5 Millionen anderen Spielern, in die Welt von Azeroth. Dort spielt man eine Figur, einen Avatar, dessen Persönlichkeit, Talente und erlernte Fähigkeiten sich kontinuierlich weiterentwickeln, während er einen Beruf ergreift, die Gegend erkundet, Ungeheuer bekämpft und
Weitere Kostenlose Bücher