Verloren unter 100 Freunden
zuschreiben und das Gefühl haben, zu Hause warte »jemand« auf sie.
Während einer Vortragspause trat die Studentin, Anne, eine schwarzhaarige Frau von Mitte zwanzig, zu mir heran und wollte Genaueres zu dem Thema wissen. Sie gestand, dass sie ihren Freund sofort gegen einen »fortschrittlichen japanischen Roboter« eintauschen würde, falls er imstande wäre, wie sie es ausdrückte, »einfühlsam zu sein«. Sie sagte, sie brauche zu Hause das Gefühl, jemanden um sich zu haben. Sie wolle nicht allein sein. Sie erklärte: »Wenn der Roboter das Nötige dazu beitrüge, wäre ich gerne bereit, mir vorzumachen, dass jemand bei mir wäre.« Sie suche nach einer »Beziehung ohne Risiko«, um ihre Einsamkeit zu besiegen. Ein sprechender Roboter, selbst einer mit vorprogrammiertem Verhalten, erschien ihr besser als ihr anstrengender Freund. Ich fragte sie sanft, ob dies ein Scherz sei. Sie verneinte. Eine noch prägnantere Begegnung hatte ich mit Miriam, einer zweiundsiebzigjährigen
Frau, die in einer Bostoner Vorstadt im Altenpflegeheim lebt und an einer meiner Studien über Roboter und Senioren teilnahm.
Ich traf Miriam in einem Büro, das man mir für meine Befragungen zur Verfügung gestellt hatte. Sie war eine schmale Person in blauer Seidenbluse und schwarzer Hose, ihr langes graues Haar war im Nacken zum Dutt verknotet. Trotz ihrer gelassenen Eleganz war sie ein trauriger Mensch. Zum Teil lag dies an ihren Lebensumständen. Für eine Frau, die einst eine von Bostons bekanntesten Innenarchitektinnen war, war das Altenpflegeheim ein düsterer, einsamer Ort. Aber es gab auch ein ganz aktuelles Problem: Miriams Sohn hatte vor kurzem den Kontakt zu ihr abgebrochen. Er wohnte mit seiner Familie an der Westküste, und bei seinen Besuchen kam es ständig zum Streit – er hatte das Gefühl, seine Mutter wolle mehr von ihm als er zu leisten imstande war. Nun saß Miriam ganz ruhig da und streichelte Paro, einen sozialen Roboter in Gestalt eines Robbenbabys. In der Werbung wurde der in Japan entwickelte Paro wegen seiner angeblich positiven Wirkung auf kranke, alte und emotional angeschlagene Menschen als »der erste therapeutische Roboter« angepriesen. Paro kann Blickkontakt aufnehmen, indem er auf die Stelle schaut, woher eine menschliche Stimme kommt; er ist berührungsempfindlich und besitzt einen kleinen englischen Wortschatz, um seinen Benutzer zu »verstehen« (sein japanisches Vokabular ist größer). Am wichtigsten aber ist, dass er verschiedene »emotionale« Zustände besitzt, die davon abhängen, wie man ihn behandelt. Er spürt zum Beispiel, ob man ihn sanft streichelt oder aggressiv. Miriam war in diesem Moment völlig in ihre Träumereien versunken und streichelte liebevoll über Paros Fell. An diesem Tag war sie besonders niedergeschlagen und glaubte, dass es Paro ebenso ginge. Sie blickte zu ihm hinunter, streichelte ihn wieder und sagte: »Ja, du bist traurig, nicht wahr? Ist schon eine schlimme Welt da draußen, ja, schlimm ist sie.« Miriams sanfte Berührung
löste bei Paro eine anrührende Reaktion aus: Er drehte den Kopf zu ihr hoch und schnurrte beifällig. Bestärkt in ihrer Einschätzung, behandelte Miriam den kleinen Roboter noch liebevoller.
Aufgrund meiner klinischen Ausbildung glaube ich, dass solch ein Moment, wenn er sich zwischen zwei Menschen ereignet, tiefgreifendes therapeutisches Potential besitzt. Wir können uns selbst heilen, wenn wir anderen das geben, was wir am nötigsten brauchen. Aber was ist von einem solchen Austausch zwischen einer depressiven alten Frau und einem Roboter zu halten? Wenn ich mit Kollegen und Freunden über derartige Erlebnisse spreche – denn Miriams Geschichte ist nicht ungewöhnlich –, assoziieren sie als Erstes meistens ihre Haustiere und den Trost, den diese spenden können. Ich bekomme Geschichten über Hunde und Katzen zu hören, die »spüren«, wenn ihre Besitzer traurig sind, und sie aufmuntern. Dieser Vergleich mit Haustieren verschärft die Frage, was es bedeutet, eine Beziehung mit einem Roboter zu führen. Ich weiß nicht, ob ein Haustier Miriams Unglücklichsein, ihr Verlustgefühl, spüren könnte. Ich weiß aber, dass der Roboter im Moment der scheinbaren Verbindung zwischen ihm und Miriam, diesem für sie so tröstlichen Augenblick, nicht das Geringste gespürt hat. Miriam erlebte Nähe zu »jemandem«, aber tatsächlich war sie mutterseelenallein. Ihr Sohn hatte sie verlassen, und während sie den niedlichen Roboter ansah, hatte ich
Weitere Kostenlose Bücher