Verloren unter 100 Freunden
sie ihre Darstellung verändert. Verändere deinen Avatar, und du veränderst deine Welt.
Audrey sagt, ihre Avatare förderten ihr Selbstvertrauen im richtigen Leben. Wie viele andere junge Frauen in Second Life macht sie ihren Avatar nach landläufiger Meinung attraktiver als sie in Wirklichkeit ist. Audrey ist ein hübsches Mädchen mit langem rotem Haar, das ihr in einem einzelnen Zopf den Rücken hinabhängt. Zusammen mit ihrer Vorliebe für Blümchenmuster gibt ihr das ein etwas altmodisches Aussehen. Auf Second Life ist Audreys Haar modisch kurzgeschnitten, ihr Körper ist entwickelter, das Make-up stärker und die Kleidung verführerischer. Keine Blümchenmuster. Ein Werbevideo für das Spiel versichert, dass hier der richtige Ort sei, um »Kontakte zu knüpfen, einzukaufen, zu arbeiten, zu lieben, Dinge zu erforschen, anders zu sein, sich zu befreien, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, sein Aussehen zu verändern, sein Aussehen zu mögen, sein Leben zu mögen«. 5
Aber ist es dasselbe, als Avatar sein Leben zu mögen oder es in Wirklichkeit zu mögen? Für Audrey, wie für viele ihrer Mitstreiter, lautet die Antwort eindeutig Ja. Das Online-Leben ist eine Übung, die den Rest des Lebens besser macht, aber es macht auch einfach Spaß. Teenager verbringen Stunden damit, ihr Taschengeld auszugeben, um Kleider und Schuhe für ihr Online-Ich einzukaufen. Diese virtuellen Waren haben einen echten Nutzen; sie sind erforderlich für Avatare, die ein vollständiges gesellschaftliches Leben führen.
Trotz ihrer Begeisterung für Second Life fand Audreys emotionalstes Online-Erlebnis auf MySpace statt – oder genauer, auf dem italienischen MySpace. Während ihres zweiten Jahres auf der Roosevelt-Highschool lernte sie eine Gruppe italienischer Austauschschüler kennen. Sie zeigten ihr die Seite. Zu diesem Zeitpunkt hatte Audrey ein Jahr Highschool-Italienisch gehabt, gerade genug, um mit Hilfe ihrer Freunde ein Profil zu erstellen. Sie räumt ein, dass dieses Profil nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit
hat. Auf dem italienischen MySpace ist Audrey älter und erfahrener. Als das Profil online ging, schickten ihr viele Männer Nachrichten auf Italienisch. Sie fand das spannend und antwortete begeistert. Das Spiel war im Gange. Jetzt, ein Jahr später, geht es weiter: »Ich antworte in meinem spärlichen Italienisch. Normalerweise reagiere ich nicht auf solche Sachen, aber weil ich glaube, meine echten Informationen sind da ja nicht drauf, und die sind in Italien und ich in Amerika, warum nicht? Es macht Spaß, mal aus sich herauszutreten. Das kann man mit seinen Freunden im wirklichen Leben nicht machen.« Für Audrey ist MySpace Italien wie ein Chatroom: »Man hat es mit Leuten zu tun, denen man nie begegnen wird, oder von denen man wenigstens glaubt, dass man ihnen nie begegnen wird.«
Audreys Konzentration auf »Leute, denen man nie begegnen wird« bringt uns wieder das Moratorium in Erinnerung, das Erik Erikson bei der Entwicklung Heranwachsender für so wichtig hielt. Da er seine Schriften in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren verfasste, konnte er davon ausgehen, dass die »Highschool-Jahre« in Amerika den Jugendlichen diese relativ folgenfreie Umgebung boten. 6 Heutzutage zeigt sich die Highschool ihren Schülern und deren Eltern alles andere als folgenfrei. Audrey nimmt an einem äußerst konkurrenzorientierten College-Vorbereitungsprogramm teil – der schnellste Ausbildungsgang an ihrer Highschool – und wird ständig an die Konsequenzen jeder Stufe, jeder Eignungstestbewertung, jedes zusätzlichen Wahlfachs erinnert. Sie betrachtet ihre Highschoolerfahrung als Zeit in einer professionellen Schule, an der sie lernt, wie sie auf ein gutes College kommt. Das wirkliche Leben bietet wenig Raum für folgenfreie Identitätsspiele, MySpace Italien hingegen sehr viel.
Noch lange nachdem die italienischen Austauschschüler wieder weg sind, behält Audrey ihre Seite auf MySpace Italien. Als sie darüber
spricht, wie viel Spaß ihr das macht, muss ich an meine erste Europareise im Sommer nach meinem zweiten College-Jahr denken. Vom Temperament her war mein damaliges Verhalten in der Wirklichkeit gar nicht so anders als das von Audrey in der virtuellen Welt. Ich bin per Anhalter von Paris nach Rom gefahren, gegen das klare Verbot meiner Eltern. Ich habe meine gesamte Identität hinter mir gelassen, abgesehen davon, dass ich eine neunzehnjährige Amerikanerin war. Ich sah keinen
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