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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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Mail.‹« Das bedeute, erklärt sie, dass Dinge online geschehen, die »eigentlich persönlich ablaufen sollten … Freundschaften gehen kaputt. Einer hat mich mal per Mail gefragt, ob ich mit ihm gehen will. Und einmal hat jemand online mit mir Schluss gemacht.« Aber Audrey hat sich mit solchen bitteren Erfahrungen abgefunden und konzentriert sich lieber auf die Vorteile des Internet-Lebens.
    Eine von Audreys derzeitigen Leidenschaften besteht darin, in Online-Welten eine geselligere, beinahe kokette Version ihrer selbst zu spielen. »Ich wäre gern mehr so, wie ich online bin«, sagt sie. Wie wir gesehen haben, ist es für Audrey kein großer Unterschied, einen Online-Avatar zu erfinden oder ein Profil für ein soziales Netzwerk
zu schreiben. Ein Avatar, erklärt sie, »ist ein lebendig gewordenes Facebook-Profil«. Und Avatare und Profile haben eine Menge gemeinsam mit den tagtäglichen Erlebnissen beim Mailen und Chatten. Bei alledem geht es ihrer Ansicht nach darum, »eine Darstellung von sich« zu liefern.
    »Einen Avatar zu bauen oder zu texten ist so ziemlich dasselbe. Du bastelst dir deine eigene Persönlichkeit; du musst dir nicht spontan was ausdenken. Viele Leute können das nicht. Du erfindest dir deine eigene kleine Idealfigur und schickst sie los. Auch im Internet, auf Seiten wie MySpace und Facebook, setzt man die Sachen rein, die man an sich mag, und nicht die schlechten Eigenschaften.
    Du stellst keine Bilder ein, auf denen du wie jeden Tag aussiehst; du schminkst dich ein bisschen, ziehst was Nettes an, und dann machst du ein Foto und postest es als deinen Normalzustand, und dann denken die Leute, so bist du jeden Tag, dabei machst du es nur für sie … Du kannst alles über dich schreiben, was du willst; die Leute merken es ja nicht. Du kannst dir ausdenken, wie du sein möchtest. Du kannst bestimmen, in welche Schablone du reinpassen willst … Im richtigen Leben funktioniert das nicht, da schafft man sowas nicht. Aber im Internet schon.
    Audrey hat ihr Handy mit Kamera den ganzen Tag bei sich; unentwegt macht sie Fotos und postet sie auf Facebook. Sie prahlt damit, dass sie viel mehr Facebook-Fotoalben hat als irgendeiner ihrer Freunde. »Ich finde es schön zu spüren«, sagt sie, »dass mein Leben da drauf ist.« Aber natürlich ist das, was da auf Facebook ist, nur ihr überarbeitetes Leben. Audrey achtet genau darauf, welche Fotos sie hochlädt. Welche rücken sie ins beste Licht? Welche zeigen sie möglichst reizvoll als »bad girl«? Wenn das Spiel mit der Identität die Entwicklungsaufgabe der Jugendzeit ist, dann arbeitet Audrey
den ganzen Tag über an dieser Aufgabe. »Wenn sie Facebook löschen würden, wäre ich auch ausgelöscht … all meine Erinnerungen wären dann wahrscheinlich weg. Und andere Leute haben auch Bilder gepostet, auf denen ich drauf bin. Das wäre alles verloren. Wenn Facebook aufgelöst würde, würde ich voll ausflippen … Da bin ich. Es ist ein Teil meines Lebens. Mein zweites Ich.« An diesem Punkt sagt Audrey über den Facebook-Avatar: »Er ist dein kleiner Zwilling im Internet.«
    Seit Audrey diesen »Zwilling« dauernd ummodelt, fragt sie sich, was mit dessen Einzelteilen passiert, die sie wegeditiert. »Was macht Facebook mit den Bildern, die man erst einstellt und dann wieder rausnimmt?« Sie vermutet, dass sie für immer im Internet liegenbleiben – eine Vorstellung, die sie gleichzeitig beunruhigend und tröstlich findet. Wenn alles archiviert wird, befürchtet sie, dass sie ihren Internetzwilling nie mehr loswird. Das ist kein so schöner Gedanke. Aber wenn alles archiviert wird, zumindest in der Fantasie, braucht sie ihren Zwilling auch nie herzugeben. Diese Vorstellung ist irgendwie nett.
    Auf Facebook arbeitet Audrey an ihrem Zwilling, und ihr Zwilling arbeitet an ihr. Sie beschreibt ihre Beziehung zu ihrer Facebook-Seite als ein »Geben und Nehmen«. Und so funktioniert es: Audrey probiert einen »koketten« Stil aus. Sie bekommt ein gutes Feedback von Facebook-Freunden, und so steigert sie diesen koketten Ton. Sie versucht es in ihren Nachrichten an der Pinnwand mit »einem ironischen, witzigen Ton«. Die Reaktionen sind nicht so gut, und sie ändert ihren Ton wieder. Dasselbe macht sie, wenn sie in virtuellen Welten mit ihren Avataren herumexperimentiert. Sie baut eine erste Version, um »irgendwas da reinzustellen«. Dann folgen Monate der Anpassung, in denen sie ausprobiert, »was für neue Menschentypen ich ansprechen kann«, indem

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