Verloren unter 100 Freunden
Grund dafür, dass mich irgendjemand als ernsthafte, akademisch erzogene Studentin kennen lernen sollte. Ich wollte einfach nur neunzehn sein. Ich habe nie gelogen, aber ich habe auch keinem der jungen Römer, mit denen ich herumhing, erzählt, dass ich nicht einfach eine unbekümmerte Studentin an einem koedukativen College war. Tatsächlich war es in jenem Sommer, in dem ich nicht ganz ich selbst war, gar nicht so klar, dass ich es nicht war. Mein Rom-Urlaub funktionierte auch nur, weil ich meine neuen italienischen Freunde nicht in mein restliches Leben mitbrachte. Auch Audrey muss die Dinge auseinanderhalten. Auf MySpace Italien pflegt sie Freundschaften, die sie von denen ihres »wirklichen« amerikanischen Facebook-Accounts getrennt hält.
Als ich Audrey von meinem Monat in Rom erzähle, lächelt sie verschwörerisch. Sie gesteht mir, dass sie »solche Sachen auch gemacht« habe. Im vorangegangenen Sommer war sie auf Klassenreise in Puerto Rico. »Ich hab Shorts getragen und Oberteile, die ich zu Hause nie anziehen würde. Da unten ist mir mein guter Ruf egal; da ist niemand, dessen Urteil mir etwas bedeutet oder so, also warum nicht?« Wir unterhalten uns über den Unterschied zwischen unseren in jeder Hinsicht grenzüberschreitenden Echtweltreisen – meiner nach Italien und ihrer nach Puerto Rico – und darüber, was sie im Internet tun kann. Nachdem unsere jeweiligen Reisen vorüber waren, saßen wir beide wieder zu Hause mit unseren wachsamen
Familien und Alltagsidentitäten. Aber Audrey kann ins Internet gehen und ihren Avataren sexy Klamotten anziehen, wann immer sie will. Ihr lebendigeres Ich ist immer nur ein paar Klicks weit entfernt auf MySpace Italien. Sie kann ihre Parallelleben als Fenster auf ihrem Bildschirm offen halten.
Einmal auf Facebook – immer auf Facebook
Jeden Tag stellt sich Audrey durch eine Gruppe virtueller Figuren dar. Da sind ihre Facebook- und MySpace-Italien-Profile; da sind Avatare in virtuellen Welten, ein paar Chatrooms und eine Handvoll Online-Spiele. Ihre Identität setzt sich aus all dem und der echten Audrey zusammen. Mit einer so vielfältigen Identität fühlen sich die Leute nicht deshalb »vollständig«, weil ihre Identitäten eins sind, sondern weil die Beziehungen zwischen den verschiedenen Aspekten ihres Ichs fließend und unaggressiv sind. Wir spüren »uns«, wenn wir uns leicht zwischen unseren vielen Ich-Aspekten hin- und herbewegen können. 7
Früher habe ich mir Sorgen gemacht, dass Teenager dieses virtuelle Nomadentum als anstrengend oder verwirrend empfinden könnten. Aber dabei habe ich nicht in Betracht gezogen, dass im Online-Leben die Internetseite das jeweilige Ich abstützt . Jede Plattform merkt sich, was man sich dort ausgesucht hat, was man über sich selbst und die Geschichte seiner Beziehungen geschrieben hat. Audrey sagt, es falle ihr manchmal schwer sich zu entscheiden, auf welche Seite sie gehen will, weil das bedeute, in die jeweilige Identität zu schlüpfen, die sie dort hat, und auf den verschiedenen Plattformen habe sie unterschiedliche Zeitvertreibe und unterschiedliche Freunde. Was Pete den »Lebensmix« nannte, bezieht sich auf mehr als das Kombinieren eines virtuellen mit einem körperlichen
Leben. Selbst für die erst sechzehn Jahre alte Audrey sind viele virtuelle Leben im Spiel.
Es überrascht nicht, dass es Momente gibt, in denen das Leben im Lebensmix mit Spannungen verbunden ist. Audrey erzählt mir eine Geschichte über einen Jungen aus der Schule, der sich mit ihr und einigen ihrer Freundinnen in dem Spiel World of Warcraft tummelt. Sie waren dort alle als Avatare zugange, aber jeder kannte die echte Identität seiner Mitspieler. Der Online-Rahmen machte den normalerweise schüchternen jungen Mann übermütig, und er wurde, wie Audrey sagt, »aggressiv und fing an herumzupöbeln«. Da lachten ihn Audrey und ihre Freundinnen aus und zogen ihn ein bisschen auf. »Wir wussten ja, wer er wirklich ist, also dachten wir uns: ›Machst du Witze?‹« Aber die Mädchen waren auch verärgert. Sie hatten noch nie erlebt, dass sich ihr Freund so benahm. Am nächsten Tag, als sie ihn in der Schule trafen, lief er einfach weg. Er konnte sich nicht dazu bekennen, was online passiert war. Die Scham über sein virtuelles Ich veränderte sein wirkliches Leben. Audrey nennt dieses Phänomen »Überschwappen«. Das passiere häufig, sagt sie, aber »es ist nicht gut«.
Audrey hat eine Strategie entwickelt, solche Überschwappeffekte
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