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Verloren unter 100 Freunden

Verloren unter 100 Freunden

Titel: Verloren unter 100 Freunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sherry Turkle
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Audrey ein, dass sie Letzteres für wahrscheinlicher hält und sich damit identifizieren kann. 8 Wenn man innige Gefühle oder Wertschätzung digital übermittelt, schützt man sich vor einer kühlen Reaktion. Einer der emotionalen Vorteile der digitalen Kommunikation ist der, dass man sich immer hinter bewusster Nonchalance verstecken kann.
    Feinere Unterschiede
    »Was läuft?« Reynold, ein Sechzehnjähriger an der Silver Academy, einer kleinen urbanen katholischen Highschool in Pennsylvania, spricht es genüsslich aus. »Beim Instant Messaging braucht man nichts weiter zu sagen.« Reynold stellt klar, dass IM keine »Inhalte« verlangt. Man braucht einfach nur da zu sein; mit seiner Anwesenheit signalisiert man, dass man bereit ist zu chatten. Eine SMS ist ein bisschen anspruchsvoller. »Da braucht man schon eher eine bestimmte Absicht. SMS sind für ›Wo bist du, wo bin ich, lass uns dies oder jenes machen‹.« Zwischen Freunden »kann eine SMS allerdings genauso beiläufig sein wie eine IM«. Das gefällt Reynold. »Engen Freunden kann man auch einfach mal ›Was läuft?‹ simsen.«

    Ich diskutiere mit acht Elft- und Zwölftklässlern der Silver Academy über Online-Kommunikation. Das von Reynold aufgebrachte Thema greifen sie gerne auf: Wann sollte man E-Mail, IM, die Facebook-Pinnwand oder das Facebook- oder MySpace-Messaging benutzen? (Die Nachrichtenfunktion in sozialen Netzwerken kommt bei den Schülern der E-Mail am nächsten, außer wenn sie es mit Lehrern, dem College und Job-Bewerbungen zu tun haben.) Einer der Älteren steht denjenigen kritisch gegenüber, die die Regeln nicht kennen: »Manche Leute versuchen sich über Kurznachrichten zu unterhalten, und das kann ich nicht leiden.« In der Gruppe ist man sich nahezu einig, dass eine der angenehmen Seiten der digitalen Kommunikation darin besteht, dass man keine Botschaft zu haben braucht. Sie kann eher dazu dienen, ein Gefühl auszulösen als einen Gedanken zu übermitteln. Tatsächlich ist sie für viele Teenager der Entstehungsort ihrer Gefühle.
    Die Unterhaltung ist noch nicht weit gediehen, da läuft die Betonung der Ungezwungenheit auf das Problem hinaus, das Audrey bereits signalisiert hat: Häufig ist die Zusammensetzung einer Nachricht (selbst der scheinbar spontansten) wohlüberlegt. Und das gilt nirgends mehr als im Umgang mit Vertretern des anderen Geschlechts. John, sechzehn, ist ein schüchterner junger Mann, der für seine Schwärmereien einen digitalen Cyrano beschäftigt. Wenn er einem Mädchen, das er wirklich mag, näherkommen will, gibt er sein Handy einem Freund, von dem er weiß, dass er gut per E-Mail flirten kann. Er hat sogar mehrere solcher »Ghostwriter«. Wenn einer dieser Freunde die Nachricht formuliert, ist John zuversichtlich, dass er bei seiner Roxanne Eindruck macht. In Herzensangelegenheiten ist die Qualität eines Textes ebenso entscheidend wie die Wahl des Kommunikationsmediums.
    Highschool-Schüler haben eine Menge dazu zu sagen, welche Art von Nachricht zu welchem Medium »passt«. Man könnte es fast
als die Fachkenntnis ihrer Generation bezeichnen. Aufgewachsen mit neuen Medien, die keine Regeln besaßen, haben sie notgedrungen selbst welche aufgestellt. Vera, eine Zehntklässlerin an der Richelieu-Highschool, sagt, das E-Mailen setze sie »sozial unter Druck«, denn wenn sie jemandem eine Mail schicke und der andere antworte nicht, nehme sie das ziemlich schwer. Beim Instant Messaging sei es nicht so schlimm, denn wenn dort »jemand nicht antwortet, na ja, dann kann man sich sagen, er sitzt gerade nicht am Computer«. Ihre Klassenkameradin Mandy widerspricht: »Wenn man mich beim Instant Messaging ignoriert, ärgere ich mich sehr.« Zwei andere kommen zu der Unterhaltung dazu. Die eine sagt zu Mandy, ihre Reaktion sei »albern« und verrate, dass sie nicht verstanden habe, »wie das System funktioniert«. Ein netteres Mädchen versucht Mandy ihre verletzten Gefühle auszureden: »Jeder weiß doch, dass man bei einer IM annimmt, dass du beschäftigt bist, mit anderen chattest, deine Hausaufgaben machst … man muss da nicht antworten.« Das kann Mandy jedoch nicht beschwichtigen: »Mir egal. Wenn ich eine Message verschicke, tut es weh, wenn nichts zurückkommt.«
    Mandy bleibt bei ihrer Ansicht. Für sie folgt die Kränkung, keine Antwort zu erhalten, aus dem, was sie die »Formalität« des Instant Messaging nennt. In ihrem Freundeskreis werden IMs am Abend verschickt, wenn man am Laptop oder Computer an

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