Verloren unter 100 Freunden
zu vermeiden. Wenn sie irgendwo im Netz ist, wo sie die wirkliche Identität der anderen kennt, verfährt sie mit dem, was sich dort ereignet, als unterliege es der Schweigepflicht. Anders gesagt: Sie nimmt einen Online-Raum wie Facebook, wo ihre Identität »bekannt« ist, und baut ihn so um, dass er sich besser als Umgebung für das dringend benötigte Moratorium eignet. Nach Audreys Ansicht sollte das, was im Internet geschieht, auch im Internet bleiben, zumindest weitgehend. Sie vergleicht das Internet mit den Anonymen Alkoholikern (AA):
»Wenn du zu einer AA-Gruppe gehen und sagen würdest: ›Ich bin Alkoholiker‹, und dein Freund wäre dabei … dann redet ihr draußen nicht darüber, selbst wenn ihr beide in derselben Gruppe seid. Das ist so eine Art stillschweigender Vereinbarung. Auf Facebook bin ich zwar nicht anonym, aber es werden nicht sehr viele Leute das Internetzeugs ins wirkliche Leben mitnehmen.
Wenn es nicht gerade einen Skandal gibt, wird dich niemand wegen der Sachen, die du auf Facebook schreibst, zur Rechenschaft ziehen. Es ist so eine Art allgemeiner Konsens, dass man sein Profil mit einer bestimmten Absicht aufstellt. Niemand wird danach fragen, warum man dies oder jenes in sein ›About me‹ [eine Unterabteilung des Facebook-Profils] reinschreibt. Die Leute lassen das einfach auf sich beruhen. Vor allem, wenn sie wissen, wer du eigentlich bist, kümmert es sie nicht, was du im Internet schreibst.«
Audreys Freunde merken zwar, dass sie die Realität auf Facebook zurechtbiegt, aber sie sind bereit, ihr Online-Ich als etwas Eigenständiges zu betrachten. Und sie erwidert diese Höflichkeit. Das Resultat ist mehr Spielraum im digitalen Leben, um mit Emotionen und Wunschvorstellungen zu experimentieren. Audrey erklärt: »Sogar bei AIM [dem kostenlosen Instant-Messaging-Dienst von AOL] könnte ich mit jemandem lange Gespräche führen, und wenn ich ihm am nächsten Tag begegne, sagt er einfach bloß ›Hey‹.« Man trennt die Wirklichkeit vom Virtuellen, um dem Virtuellen die Luft zum Atmen zu geben, die es braucht.
Manchmal, sagt Audrey, »versuchen die Leute auch, das, was sie online zur Schau stellen, in ihr wirkliches Leben mitzunehmen«, aber mit verheerender Wirkung. Als Beispiel schildert sie ihren »schlimmsten Internetkampf«. Es fing in einem Chatroom an, wo sie mit Logan, einem Klassenkameraden, in Streit geriet. Als sie merkte, dass sie im Unrecht war, sagte Audrey Logan am nächsten
Tag persönlich, dass es ihr leidtäte. Doch die Entschuldigung beruhigte die Gemüter keineswegs. Stattdessen brachte Logan die Sache wieder in die Online-Welt zurück. Er postete seine Version der Geschichte an ihrer Pinnwand. Nun konnten all ihre Freunde es lesen. Audrey sah sich gezwungen, ihrerseits zu kontern. Jetzt erzählte seine Pinnwand von ihrer Verärgerung. In der Schule hatten Audrey und Logan viele gemeinsame Freunde, die meinten, Partei ergreifen zu müssen. Tag für Tag wurden stundenlang erboste Nachrichten hin- und hergeschickt, mit wachsender Teilnehmerzahl.
Was Audrey daran am meisten ärgert, ist, dass es im Grunde genommen »praktisch um gar nichts ging«. Sie erklärt: »Ich hatte etwas gesagt, was ich nicht hätte sagen sollen. Ich habe mich dafür entschuldigt. Wenn das Ganze auf einer Party passiert wäre, wäre es in fünf Minuten erledigt gewesen.« Aber sie hatte es im Internet gesagt, in diesem seltsamen Nachhallraum. Für Audrey ist die Wunde dieses sechs Monate zurückliegenden Vorfalls noch nicht verheilt: »Wir waren wirklich gute Freunde, und jetzt sehen wir uns im Flur nicht einmal mehr an.«
Sie tröstet sich damit, dass sie getan habe, was sie konnte. Auch wenn sie ihr Prinzip, das Virtuelle vom Realen zu trennen, missachtet hatte, findet sie, dass der Versuch, die Dinge persönlich »in Ordnung« zu bringen, ihrer Freundschaft mit Logan die besten Chancen gegeben habe: »Eine Online-Entschuldigung ist billig. Man braucht bloß zu tippen: ›Tut mir leid‹, ohne wirklich etwas zu empfinden, ohne Aufrichtigkeit in der Stimme oder so. Zu jemandem hinzugehen und ihm zu sagen: ›Entschuldige bitte‹, dazu gehört viel mehr, und dann kann man es wirklich ernst nehmen. Wenn jemand es sich so einfach macht und sich auf eine Kurznachricht verlässt, um seine Empfindungen rüberzubringen, das funktioniert nicht.« Schließlich hat Logan sich entschuldigt, aber nur online. Folglich ging die Sache schief. »Es wäre vielleicht etwas anderes gewesen,
wenn er es
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