Verloren unter 100 Freunden
seinen Hausaufgaben sitzt. Dieser angenommene soziale und technische Rahmen zwingt zu einer gewissen Disziplin. Mandys Fall beruht auf einer Argumentation im Sinne Marshal McLuhans: Das Medium bestimmt die Botschaft. Wenn man am Computer sitzt, ist das Medium förmlich, und die Nachricht sollte es ebenfalls sein. Wenn man herumrennt und beim Einkaufen oder Kaffeetrinken schnell ein paar Tasten an seinem Handy drückt, um eine Nachricht zu verschicken, dann ist das Medium zwanglos, und die Nachricht darf
es auch sein, egal wie lange man an ihrem Inhalt herumgebastelt hat.
Die Verteidiger der »Nonchalance« beim Instant Messaging bleiben bei ihrem Standpunkt: Wenn man eine IM verschickt, geht sie an jemanden, »bei dem vielleicht gerade zehn Sachen auf einmal laufen«. Auch wenn er am Computer sitzt, kann der Empfänger unter Umständen Hausaufgaben machen, im Facebook Spiele spielen und sich dabei noch einen Film anschauen. In diesem ganzen Tohuwabohu kann eine IM leicht verloren gehen. Und manchmal bleiben die Leute auch bei Instant Messenger angemeldet, obwohl sie vom Computer aufgestanden sind. Das alles bedeutet, fasst Vera zusammen, »dass eine IM ein geringeres Risiko sein kann, die Lage zu peilen, als eine E-Mail, besonders mit einem Jungen. Man kann dabei einfach mal was losschicken, ohne unbedingt eine Antwort zu erwarten«. Auch wenn Instant Messaging eigentlich dafür entworfen ist, sich mit anderen zu unterhalten, eignet es sich also ausgezeichnet für ein unverbindliches »Was läuft?«.
Alle Richelieu-Zehntklässler sind sich darüber einig, dass es das Telefonieren ist, was man vermeiden sollte. Mandy liefert dafür eine niederschmetternde Begründung: »Man will nicht anrufen, weil man sich dann auf eine längere Unterhaltung einlassen muss.« Und längere Unterhaltungen, »also, das ist was, das will man eben nur haben, wenn man’s gerade haben will«. Für Mandy wäre das »so gut wie nie … Es ist fast immer zu zeitraubend, es dauert zu lange, und es ist unmöglich, ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen.« Sie teilt Audreys Problem. Abruptes Aufhören wird zu leicht als Zurückweisung empfunden. Beim Instant Messaging, sagt sie, »stellt man einfach eine Frage, und das war’s«.
Die Abneigung gegen das Telefonieren zieht sich durch alle Generationen. Ein sechzehnjähriger Junge von der Fillmore School telefoniert nie, außer wenn seine Mutter ihn auffordert, Verwandte
anzurufen. »Wenn man eine E-Mail schreibt, hat man mehr Zeit zum Nachdenken. Beim Telefonieren überlegt man nicht so genau, was man sagt, wie bei einer E-Mail. Am Telefon kann man viel zu viel von sich verraten.« Er zieht eine bedächtigere Variante vor, die man dann ja spontan wirken lassen kann. Dieser improvisierte, scheinbar unbekümmerte Stil war schon immer ein emotionales Hauptmerkmal der Jugend, aber jetzt wird es den Heranwachsenden durch die digitale Kommunikation noch leichter gemacht: Man streckt einen Fühler aus; man tut so, als wäre es einem ziemlich egal; die Dinge nehmen ihren Lauf.
Eine Mail erweckt vielleicht beim Empfänger den Eindruck der Spontaneität, aber die Teenager geben zu, dass sie manchmal zehn Minuten am ersten Satz herumbasteln. Spencer, Zwölftklässler an der Fillmore School, sagt: »Man vergisst die Zeit, die man da reingesteckt hat, wenn man eine Antwort bekommt. Man denkt nie, dass irgendjemand anders viel Überlegung in seine Nachricht gesteckt hat. Also vergisst man, dass man selber es getan hat.« Ich frage ihn, ob er jemals eine hastig heruntergeschriebene Nachricht abgeschickt habe, und er versichert mir, es komme schon mal vor. »Aber nicht bei denen, die wirklich zählen … Bevor ich da eine wichtige Nachricht versende, schreibe ich sie erst noch ein paar Mal um.« Deval, einer seiner Klassenkameraden, sagt, er sei ein sehr flinker Ein-Finger-Tipper und bezeichnet seine Textnachrichten als »Unterhaltungen«. Einmal treffen wir uns mittags. Um diese Zeit, sagt er, habe er schon »um die hundert Mails verschickt«, die meisten an zwei verschiedene Leute. Die eine Unterhaltung, erklärt er mir, »war mit meinem Kumpel über sein Spiel gestern Abend. Ich konnte nicht hingehen. Die andere war mit meiner Cousine in Montreal, sie hat mich nach diesem Sommer gefragt und so Sachen. Ich werde in Kanada aufs College gehen. Weil ich nächstes Jahr in ihrer Nähe bin, wollte sie wissen, ob ich sie diesen Sommer besuchen komme«.
Ich frage Deval, worin sich diese Unterhaltung von einem
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