Verloren unter 100 Freunden
wir erinnert werden müssen: Beziehungen, über die wir uns beklagen, halten uns dennoch in Verbindung mit dem Leben. Die Werbung übt eine Tyrannei aus, die tödlich sein kann. Die Leute strecken freundlich ihre Hand nach Fremden aus. Unsere Einsamkeit ist so groß, dass es uns als größte Hoffnung erscheinen kann, jemanden zu heiraten, den wir lediglich von einer Internetseite her kennen. An der elektronischen Front schmieden wir Beziehungen, die uns auf frühere Zeiten und frühere Techniken zurückwerfen. Wir verlieben uns in die Brieffreunde des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Häufig besteht ihr Reiz darin, dass wir nicht wissen, wer sie »wirklich« sind. Also könnten sie ja perfekt sein.
In der Welt von PostSecret gibt einem die Fähigkeit, sich suchend voranzutasten, sich in unfertigen Gedanken zu äußern, die Erlaubnis zu reden. Nancy, zweiundzwanzig, schickt fast jeden Monat Postkarten an PostSecret. 3 Sie sagt: »Ich habe nicht genug Disziplin, Tagebuch zu führen. Ich glaube nicht, dass ich so wichtig bin. Aber ich schaffe es, regelmäßig meine Karte zu schicken.« Für eine Postkarte reicht die einfachste Formulierung. Es ist eine hübsche
Vorstellung, dass die Karten für sie ein Anfang sein könnten, sich mehr zuzutrauen.
Wenn ich Bekenntnisseiten lese, bin ich mir durchaus der Tatsache bewusst, dass das Internet ein Bereich ist, in dem Erfahrungen vereinfacht und vertieft werden. Marktanreize sind trotzdem am Werk; jede Geschichte wetteifert mit anderen. Übertreibung steigert vielleicht das Interesse der Leserschaft. Und da alle Bekenntnisse anonym sind, kommt nichts ans Tageslicht. Aber wenn die Leute hier nicht ehrlich sind, dann sind diese Bekenntnisse Fiktion. Oder vielleicht sind Online-Beichten ja überhaupt ein neues Genre. Wenn die Leute Avatare erschaffen, sind diese auch nicht sie selbst, aber sie bringen wichtige Dinge über sie zum Ausdruck. Online-Beichten, eine weitere Internet-Auftrittszone, besetzen auch einen intermedialen Raum. Die Aussagen hier sind vielleicht nicht wahr, aber wahr genug für die Schreiber, um sich unbelastet zu fühlen, und für die Leser, um sich als Teil einer Gemeinschaft zu empfinden.
PostSecret veranstaltet jährliche Picknicks, bei denen die Leute sich kennen lernen und die echten Papierpostkarten sehen können, die an die Seite geschickt wurden. Beim ersten dieser Picknicks erklärt ein junger Mann, wie ihn diese Seite tröstet. Er will eindeutig sagen, dass sie »die Voraussetzung für Akzeptanz bietet«. Aber er verspricht sich und sagt, die Seite »bietet den Anschein von Akzeptanz«. Beides stimmt. Für mich entlarvt sein Versprecher die Website. Manchmal herrscht dort Akzeptanz. Manchmal auch nicht. Aber es fungiert alles als neue Illusion – jemand hört mir zu.
Manche Leute hauen ihre Postkarten einfach so raus, aber andere nutzen ihre Erstellung als Gelegenheit, Bilanz zu ziehen. Eine Karte zu fabrizieren erfordert Zeit zum Nachdenken. Das ist die große Stärke von PostSecret. Louisa, zweiunddreißig, Mutter von zwei Kindern, sagt: »Man weiß, was man im Sinn hat, aber hier kommt man dazu zu erkennen, was man am meisten im Sinn hat.« Auf anderen
Seiten scheint das Posten impulsiver vor sich zu gehen. Aber auf allen findet ein Bekenntnis, das früher vielleicht innerhalb der Grenzen von Freundschaft, Familie oder Kirche abgelegt wurde, jetzt ganz ohne Beschränkungen und Verpflichtungen statt. Es geht an jeden, der gerade eingeloggt ist. Wenn solche Beichten im realen physischen Raum passieren, dann gibt es Gespräche und Diskussionen.
Einem Freund etwas zu beichten kann Missbilligung auslösen. Aber auch wenn Missbilligung schwer anzunehmen ist, kann sie Teil einer andauernden und hilfreichen Freundschaft sein. Sie kann bedeuten, dass man jemandem genug bedeutet, dass er über einen nachdenkt und mit einem über seine Empfindungen redet. Und wenn ein persönliches Bekenntnis auf Kritik stößt, dann haben wir einen Anhaltspunkt dafür, nach dem Grund zu suchen. Nichts davon geschieht bei einem Online-Bekenntnis gegenüber Fremden. Man sagt, was man zu sagen hat, und die Meinungen anderer kommen als Hagel anonymer Reaktionen. Es ist schwer, sagen diejenigen, die posten, sich nur mit den netten Leuten zu befassen.
Sich Luft machen
Wenn ich mich mit Leuten über Online-Bekenntnisse unterhalte, sind die Reaktionen ähnlich wie beim Gespräch über Robotergefährten: »Das kann nicht schaden.« – »Die Menschen sind einsam. Solche
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