Verloren unter 100 Freunden
aufwertend. »Es gibt diplomatische Erfolge, Feldzüge, Siege.« Aber dann verfällt er schnell in eine zwanghafte Ausdrucksweise. Seine Errungenschaften im Spiel – von der Einführung des allgemeinen Wahlrechts bis zum Bau kultureller Wunderwerke – scheinen rationiert zu sein, verabreicht wie eine sorgsam dosierte Droge, die ihn bei der Stange halten soll. Er wird auf eine Weise mit Spielerfolgen gefüttert, die es ihm »schwer macht aufzuhören«. Er sagt:
»Du willst bloß immer mehr Popcorn und Kartoffelchips haben. Was erhält also den Appetit aufrecht? Also, ich muss diese ganzen kleinen Sachen kriegen. … Eine Stadt baut gerade ein neues Schützenregiment auf … oder du willst allgemeines Wahlrecht. Aber wenn du das erstmal hast … [macht ein Fanfarengeräusch]. ›Das allgemeine Wahlrecht ist in Washington eingeführt worden‹, und sie zeigen dir dieses großartige Bronzebild. … Du kriegst das zur Belohnung, dieses Bild, das du normalerweise nicht siehst. Das ist etwas sehr Beruhigendes, diese immer wieder auftauchenden Sachen.«
In Adams Geschichte sehen wir das Beruhigende des Rückzugs, den Schüll beschreibt und bei dem man in einem Bereich voraussehbarer Handlungen ein Gefühl von Abenteuer bekommt. Simulationen bieten die Wärme eines technologischen Kokons. Und wenn wir uns erst einmal human fühlen, weil wir gut Freund mit Bots sind, dann ist es vielleicht gar nicht so erstaunlich, dass wir uns im Internet Fremden anvertrauen und ihnen sogar die persönlichsten Dinge erzählen. Auf Bekenntnisseiten sind unsere gegenseitigen Erwartungen reduziert, aber die Leute wärmen sich an ihrem elektronischen Kamin. So wie Simulationen es möglich machen, Dinge zu tun, die man in der Realität nicht fertigbringen würde – ein Gitarrenvirtuose zu werden oder wie ein wohltätiger Fürst zu leben –, geben einem Internet-Bekenntnisse die Erlaubnis, Dinge nicht zu tun, die man in der Realität tun sollte , wie etwa sich zu entschuldigen oder etwas wiedergutzumachen.
12. Kapitel
Wahre Bekenntnisse
Seit sechs Monaten lese ich regelmäßig Bekenntnisseiten im Internet. Die Lektüre eines Nachmittags beschert mir etwa solche Einträge: »Der einzige Grund, warum ich mich noch nicht umgebracht habe, ist der, dass meine Mutter sich dann auch umbringen würde. … Ich bin in einen Jungen verliebt, den ich noch nie getroffen habe, aber wir schicken uns jeden Tag Instant Messages und unterhalten uns darüber, was wir tun oder wo wir wohnen werden, wenn wir verheiratet sind. … Durch meine Bulimie kann ich meinem Freund besser einen blasen.«
Auf den meisten dieser Seiten loggen sich die Leute anonym ein und posten etwas, das sie manchmal auch als Geheimnis deklarieren. Auf manchen Seiten endet damit der Austausch. Auf den meisten soll die Welt darauf reagieren. Vielleicht ist die Welt dann nett oder ignoriert den Eintrag. Vielleicht ist sie aber auch grob. Auf PostSecret, einer Seite, bei der Bekenntnisse zunächst als Ansichtskarten eingeschickt werden, ehe sie eingescannt und online gestellt werden, entwirft eine Frau ein Bild, das ein gertenschlankes Model darstellt, und schreibt: »Wenn ich, um so auszusehen, einen Fuß opfern müsste, würde ich ihn mir sofort abhacken.« 1 Ein Jahr später kehre ich auf die PostSecret-Seite mit ihren bekümmerten Gemütern zurück. »Meine Mutter hatte ein Verhältnis mit dem ersten Jungen, mit dem ich geschlafen habe.« – »Es war ein Fehler, sich von dir scheiden zu lassen.« – »Ich war von ihm abhängig. Jetzt bin ich von den Drogen abhängig, die er mir verkauft hat, als wir Schluss gemacht haben.«
Auf PostSecret gibt es einen Austausch zwischen Postkartenschreibern und solchen, die mit einer E-Mail darauf reagieren. Die Nachricht, »Ich frage mich, ob Weiße überhaupt wissen, was für ein Glück sie haben, dass sie weiß sind«, erzeugt Antworten wie: »Ich frage mich, ob Heteros wissen, was für ein Glück sie haben, nicht schwul zu sein« und »Ich frage mich, ob irgendwelche Weißen/ nicht Weißen, Heteros/Schwule wissen, was für ein Glück sie haben, keine Autisten zu sein.« Die Postkarte mit der Nachricht, »Ich habe morgen eine Halsoperation und hoffe, dass ich sterbe«, führt zu: »Ich hoffe, dass dieses Gefühl stirbt und dir die Operation neue Gründe gibt zu leben. Ich schließe dich in meine Gebete ein.« 2
Diese Schreiber halten unserer vielgesichtigen Zeit einen Spiegel vor. Es gibt wichtige Dinge, die wir lernen oder an die
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