Verloren unter 100 Freunden
Internetseiten sind immerhin etwas, wohin sie sich wenden können.« – »Es hilft einem, sich die Dinge von der Seele zu reden.« Auf den ersten Blick gibt es wenig Ähnlichkeit zwischen Beicht-Websites, auf denen man mit anderen Menschen in Kontakt tritt, und einer Maschine, die keine Vorstellung davon hat, was eine Beichte ist. Dass beides dieselben Reaktionen hervorruft, weist darauf
hin, dass es zwischen beidem dennoch gewisse Gemeinsamkeiten geben muss. Etwas auf einer Webseite zu bekennen und mit einem als »therapeutisch« betrachteten Roboter zu reden hat aus der Perspektive des Nutzers gleichermaßen die Funktion, etwas »loszuwerden«. Dahinter steht die Auffassung: Schlechte Gefühle werden erträglicher, wenn man sie herauslässt. Beide Verhaltensweisen gehen von der Vorannahme aus, man könne mit Gefühlen umgehen, ohne direkten Umgang mit einem Menschen zu haben. 4 Bei beiden erscheint etwas als Gespräch, was viel weniger ist. Seinen Gefühlen Luft zu machen gibt einem das Gefühl, sie mit anderen zu teilen.
Dabei besteht die Gefahr, dass wir diese Reduktion unserer Erwartungen allmählich als neue Norm ansehen. Es ist möglich, dass das Chatten mit anonymen Menschen Online-Bots und -agenten wie gute Gesellschaft aussehen lässt. Und es ist möglich, dass die Gesellschaft von Online-Bots anonyme Menschen gut aussehen lässt. Wir erwarten weniger von Menschen und mehr von der Technologie.
Die Älteren – sagen wir mal über fünfunddreißig – reden über Online-Beichten als Ersatz für Kontakte, die sie sich wünschen, aber nicht haben (wie etwa ein vertrauenswürdiger Pastor oder Freund). Jüngere sind eher bereit, Online-Beichten als Sache für sich zu nehmen. Es ist neu; es ist interessant. Manche lesen solche Seiten einfach, um zu sehen, was da los ist. Manche sagen, es tröste sie zu erfahren, dass andere Menschen dieselben Probleme haben wie sie. Es gibt auch Leute, die diese Seiten nur zum Spaß besuchen. Und natürlich benutzen manche die Seiten für ihre eigenen Bekenntnisse und bezeichnen sie ganz unbefangen als Möglichkeit, mit jemandem zu reden. Die meisten Internetseiten verfolgen zurück, wer sie besucht hat. Online-Bekenntnisseiten behaupten, sie würden das nicht tun. Der sechzehnjährige Darren sagt: »Die
Bekenntnisseiten bieten Anonymität, wenn man bloß mal ein Geheimnis loswerden will.«
Darrens Familie kommt aus Vietnam und ist streng katholisch. Sein Vater kontrolliert jeden Abend Darrens Hausaufgaben und beaufsichtigt seinen Sohn bei den Stunden zusätzlichen Lernens, wenn er in einem Fach wacklig steht. Darrens Eltern treffen die wichtigen Entscheidungen für ihn gemäß dem, was Darren ihre »Regel der Vernunft« nennt. Er sagt, sie werden ihm ein College aussuchen, indem sie »die Kosten damit vergleichen, was andere Optionen für meine zukünftige Karriere bedeuten«. Etwas spitz fügt er hinzu: »Es würde mich wundern, wenn die ›vernünftige‹ Berufswahl nicht auf Maschinenbau fiele.« Bei all dem ist Darren fügsam. Er äußert kein Missfallen an seiner Familienkultur, aber er hat sich einen Ort außerhalb ihrer Grenzen gesucht, an dem »ich einfach meine Gefühle herausschreien kann«.
Etliche von Darrens vietnamesischen Freunden nutzen Bekenntnisseiten; so hat er überhaupt erst von ihnen erfahren. Darren erklärt, dass sie dabei alle falsche Namen benutzen. Er sagt: »Wir stellen da unsere Geheimnisse rein, und die wollen wir einfach einem Fremden zeigen, keinem Freund, sondern einem Fremden. Du willst deine Gefühle ausdrücken. Du schreibst sie auf und setzt sie rein, und du willst einfach, dass irgendjemand, der dich nicht kennt, es sich ansieht. Nicht deine Freunde.« Darren hält einen Roboter als Vertrauten ebenfalls für eine gute Idee. Dass ein Roboter keine Gefühle hat, stört ihn überhaupt nicht. Er findet sogar, das habe »möglicherweise sein Gutes«. Im Gegensatz zu seiner Familie sei ein Roboter »wertfrei«. Darrens Reaktion auf die Vorstellung, mit einem Computer-Programm zu reden: »Ich könnte ein paar Gefühle pur loswerden.«
In seiner Gemeinschaft findet Darren keinen Platz für das, was er seine »irrationalen Einstellungen« nennt. Er sagt, es sei ihm peinlich,
sie mit anderen zu teilen, selbst mit Freunden. Da sei so ein zukünftiger Roboter hilfreich, und jetzt sei es eben das Internet. Ich komme nicht dahinter, worin Darrens »irrationale Einstellungen« bestehen, aber Sheryl, eine zweiunddreißigjährige Krankenschwester in
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