Verloren unter 100 Freunden
auseinanderzusetzen, sondern auch, weil wir unter Umständen erst dann an den Punkt gelangen, wo wir über eine Entschuldigung nachdenken, wenn wir uns bereits von anderen entkoppelt fühlen. In diesem Zustand vergessen wir, dass unser Vorgehen andere in Mitleidenschaft zieht.
Junge Leute, die sich ihre Schrammen bei Online-Geplänkeln weggeholt haben, sind oft am eifrigsten, wenn es darum geht, in der Vergangenheit nach dem besten Weg zu suchen, wie man sich auf klassische Weise entschuldigt. Zwei Mädchen aus dem zweiten Jahr an der Silver Academy vertreten den Standpunkt, dass zu viele Online-Entschuldigungen im Umlauf sind. Für die eine »ist es wirklich unpersönlich, eine Entschuldigung zu posten. Man kann die Stimme des anderen nicht hören. Er könnte ironisch sein, und man würde es nicht merken.« Die andere pflichtet ihr bei: »Es ist schwerer ›Entschuldige bitte‹ zu sagen, als es zu posten, und wenn du derjenige bist, bei dem man sich entschuldigt, dann weißt du das. Und das hilft einem, dem anderen zu verzeihen – dass er es einem persönlich sagt, dass er den Mumm hat und sich wirklich entschuldigen will.« Im Wesentlichen wollen beide sagen, dass die Vergebung
aus der Erfahrung der Empathie hervorgeht. Man sieht, dass der andere unglücklich darüber ist, einen gekränkt zu haben. Man ist sicher, dass man etwas Gemeinsames miteinander teilt. Wenn wir einen großen Teil unseres persönlichen Lebens im Internet verbringen, wird solch ein komplexer Austausch von Mitgefühl immer seltener. Wir gewöhnen uns daran, weniger zu bekommen.
Fremde können grausam sein
Harriet, zweiunddreißig, loggt sich auf Bekenntnisseiten ein, wenn sie deprimiert ist, vielleicht zwei oder drei Mal im Monat. Am liebsten benutzt sie Seiten, auf denen die Leser Kommentare hinterlassen können. Sie sagt: »Dann fühle ich mich mit anderen verbunden.« Sonst, meint sie, »wäre es, als würde ich eine Botschaft in eine Flasche stecken und sie ins Meer werfen«. Zunächst betont Harriet, dass »kritische Kommentare« über ihre Mitteilungen ihr nichts ausmachten. Aber schon ein paar Minuten später, als wir ins Detail gehen, räumt sie ein, dass solche Kommentare – zu ihrer Überraschung – sehr verletzend sein können. Ihre schlimmste Erfahrung machte sie, nachdem sie bekannt hatte, dass sie als Teenager von ihrem Onkel verführt wurde. »Meine Tante hat es nie erfahren. Sie ist vor kurzem gestorben. Mein Onkel ist auch tot. Jetzt gibt es niemanden mehr, für den es von Belang wäre und dem ich davon erzählen könnte. Also bin ich ins Internet gegangen, einfach, um es zu erzählen. Die Leute waren wirklich kritisch, und das tat weh. Ich hatte damit gerechnet, dass es vielleicht ein paar, na ja, religiösen Leuten aufstoßen würde. Aber tatsächlich bekam ich eine Menge Missbilligung ab.« Harriet fängt an mit: »Wen kümmert es schon, was Fremde von einem halten?« Und sie schließt damit, eine menschliche Verletzlichkeit zu beschreiben: Wenn man eine intime
Sache mit einem Fremden teilt, lässt man sich auf die Meinung des anderen ein. Anonymität schützt uns nicht vor emotionaler Angreifbarkeit. In Gesprächen über Online-Bekenntnisse sagen die Leute gern, es genüge ihnen, wenn sie ihren Gefühlen Luft machen könnten, aber sie stellen sich dabei doch den Idealfall vor: dass sie ihre Geschichten Menschen erzählen, die daran Anteil nehmen. Gelegentlich treffen Online-Bekenntnisse ja auch auf mitfühlende Ohren, aber ein Idealfall ist nun einmal genau das: ein Ideal.
Roberta, achtunddreißig, beschreibt ihren Gemütszustand beim Schreiben von Online-Bekenntnissen so: Sie fühle sich völlig losgelöst. Wenn die Realität zu quälend ist (beispielsweise die Realität eines Missbrauchs), kann es vorkommen, dass Menschen das Gefühl haben, ihren Körper zu verlassen und sich selbst von oben zu betrachten. Das Ich zu verlassen ist eine Möglichkeit, unerträgliche Erlebnisse nicht mehr zu spüren. So schreibt Roberta ihre Bekenntnisse, erinnert sich aber manchmal gar nicht mehr an die Einzelheiten des Vorgangs. Dann verlässt sie die Seite und geht wieder dazu über, Kommentare zu lesen. Sie sind nicht immer hilfreich, und dann verfällt sie von Neuem in diesen losgelösten Zustand. Sie erzählt:
»Als ich ungefähr vierzehn war, hatte ich ein Verhältnis mit dem Freund meiner Mutter. Er wohnte damals schon bei uns, seit ich zehn war. … Als ich im Internet darüber schrieb, merkte ich auf einmal, dass ich
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