Verloren unter 100 Freunden
gar nicht wusste, was ich gerade tat. … Später sah ich noch einmal nach und fand ein paar sehr positive Kommentare, aber es gab auch welche, die besagten, ich hätte meine Mutter komplett verraten. … Ich solle es ihr sagen. Andere meinten, ich solle es ihr nicht sagen, aber ich sei eine Schlampe. Ich bin nicht in Ohnmacht gefallen oder so. Aber irgendwann fand ich mich in der Küche wieder … und wusste nicht, wie ich da hingekommen war.«
Wir konstruieren Technologien, die uns auf neue Weise verletzlich machen. In Fall von Bekenntnisseiten teilen wir belastende Erfahrungen mit unsichtbaren Lesern, die sie womöglich für ihre eigenen Zwecke benutzen. Stehen diejenigen, die darauf reagieren, auf unserer Seite, oder sind sie unsere Richter, die jedes Bekenntnis »einstufen« und dann zum nächsten weitergehen? Wenn wir uns verletzlich machen, erwarten wir mit wenigen Ausnahmen, gut behandelt zu werden. 5 Das ist der Grund, warum die Leute manchmal – häufig voreilig – anderen, die sie kaum kennen, ihre »traurigen Geschichten« erzählen. Sie hoffen, dass ihnen das Vertrauen vergolten wird. Das Internet erhöht die Anzahl derer, an die man sich in der Hoffnung auf eine fürsorgliche Antwort wendet. Aber es setzt einen auch der Grausamkeit fremder Menschen aus. Und dass die Worte von der Person, die sie äußert, getrennt sind, kann die Empfänger zu einer ruppigen Reaktion verleiten. Schon seit den Anfängen der E-Mail-Kommunikation klagen Nutzer über »aufbrausende Reaktionen« im Internet. Manche Leute sagen ungeheuerliche Dinge, selbst wenn sie nicht anonym sind. Heutzutage erleben wir in sozialen Netzwerken Auseinandersetzungen, die ohne erkennbaren Grund eskalieren, wenn man einmal davon absieht, dass hier keine physische Anwesenheit mäßigend wirken könnte.
Als Audrey einen Internet-Streit an ihrer Schule beschrieb, haben wir gesehen, wie so etwas vonstatten geht: »Irgendjemand sagt ein falsches Wort. Irgendjemand pöbelt einen anderen an. Viele Leute ergreifen Partei. … Sie stritten sich das ganze Wochenende lang. Zwanzig oder dreißig Mal am Tag hin und her.« Ihrer Meinung nach war am Ende des Wochenendes nichts aufgelöst. Niemand hatte etwas über den Umgang mit anderen Menschen gelernt. »Es konnte nicht einmal mehr jemand sagen, worum es eigentlich ging.« Aber Leute, die vorher befreundet gewesen waren, redeten von da an nicht mehr miteinander. Wenn sie dem anderen nicht gegenüberstehen,
entwickeln manche Menschen eine internetspezifische Großmäuligkeit. Audrey weiß, dass es im Internet einfacher ist, ein Rüpel zu sein.
Trotzdem sind Teenager, die das wissen, häufig auch Besucher von Bekenntnisseiten. Brandi, achtzehn, vergleicht sie mit Facebook und MySpace, ihren anderen Internetportalen. In ihren Augen ist klar, worin deren Gemeinsamkeit besteht, nämlich darin, dass die Leute gleichermaßen eine Beziehung zu diesen Seiten aufbauen als auch zu denjenigen, die sich dort tummeln. »Online«, sagt Brandi, »krieg ich das Persönliche aus meinem System raus. … Ich stelle einfach mein Unglück auf die Internetseite.«
Bei einer solchen Verlagerung von Gefühlen ist es kein Wunder, dass die Online-Welt emotionsgeladen ist. Auf Bekenntnisseiten gehen Leute, denen ein bestimmtes Bekenntnis zuwider ist, dazu über, sich gegenseitig »anzuschreien«. Sie verlagern ihre Gefühlsaufwallungen bei bestimmten Themen – Abtreibung, Kindesmissbrauch, Euthanasie – auf Auseinandersetzungen mit Fremden. Sie setzen ihr »Unglück ins Internet«, weil sie sich häufig bei anderen am meisten über genau das ärgern, was sie an sich selbst verabscheuen. 6
Jonas, zweiundvierzig, gibt zu, nach einer Reihe von Bekenntnisseiten »süchtig« zu sein; ein paar davon sind religiös, die meisten nicht. Er unterbricht seine Arbeit und »taucht« tagsüber in die eine oder andere Seite »ab«. Jonas ist geschieden, und die Vorstellung, sich immer mehr von seinem Sohn zu entfremden, der es vorzieht, mehr mit seiner Mutter zusammen zu sein, beschäftigt ihn sehr. Jonas findet nicht, dass er seinem Sohn irgendeinen bestimmten Vorwurf machen könnte; er hatte auch keinen Streit mit ihm. »Ich sehe ihn einfach nur immer seltener.« Aber er gesteht mir, dass ihn, mit diesem Problem im Kopf, ein bestimmter Eintrag von einer Frau namens Lesley, die sich Sorgen um ihren neunzehn Jahre alten Sohn
macht, in Rage gebracht habe. Lesley und ihr Sohn hatten während seines ersten Highschool-Jahres ein
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