Verloren unter 100 Freunden
Zerwürfnis gehabt, das nie bereinigt wurde. Kurz nach seinem Highschool-Abschluss war der Sohn zur Armee gegangen und in den Irak geschickt worden. Nun macht sich Lesley Vorwürfe, sie könnte ihn vertrieben haben. »Ich habe Lesley angegriffen und gesagt, sie sei eine schlechte Mutter. … Und dass sie dafür verantwortlich sei, wenn ihr Sohn fiele.«
Es erscheint offensichtlich, dass Jonas, anstatt seinen eigenen Gefühlen über seinen Sohn auf den Grund zu gehen, auf Lesley losgegangen ist. Unter Freunden und in der Familie kommt so etwas auch gelegentlich vor. Aber im Internet ist es weit verbreitet. Dort gibt es keine Grenze für verschobene Gefühle oder für Wutanfälle. Internet-Plattformen für Lebensbeichten beruhigen die User damit, dass sie ja nicht persönlich mit jemandem zu reden bräuchten – schon das Niederschreiben sei hilfreich. Und natürlich mag das manchmal stimmen. Ich denke da an die Schreiber auf PostSecret, die sich vielleicht besser fühlen, wenn sie Postkarten anfertigen, auf denen steht: »Mich von dir scheiden zu lassen war ein Fehler« und »Ich feiere, dass dies das letzte Jahr ist, in dem du mich missbraucht hast«. Aber Bekenntnisseiten werden oft für Therapie gehalten, was sie nicht sind. Denn neben dem Sich-Aussprechen sucht eine Therapie neue Wege, sich alten Konflikten anzunähern. Und wenn wir an Jonas und Lesley denken, funktioniert eine Therapie, weil sie uns hilft zu sehen, wann wir Gefühle auf andere projizieren, die wir als unsere eigenen erkennen sollten.
Es ist nützlich, ein Symptom als etwas anzusehen, das wir »mit Freuden hassen«, weil es uns Erleichterung verschafft, auch wenn es uns davon abhält, uns mit dem zugrunde liegenden Problem zu befassen. Für mich können Bekenntnisseiten im Internet wie Symptome sein – ein plötzliches Wohlgefühl, das unsere Aufmerksamkeit davon ablenken kann, was ein anderer Mensch wirklich
braucht. Eine Zwölftklässlerin erzählt mir, dass sie mindestens zwei Mal wöchentlich Bekenntnisseiten besucht. Vor kurzem hat sie darüber geschrieben, wie sie mit dem Freund ihrer besten Freundin schläft. Als ich sie frage, was sie mache, nachdem sie das geschrieben habe, sagt sie, dass sie allein in ihrem Zimmer sitze und rauche. Sie glaubt, dass sie ihr Gewissen erleichtert hat, und möchte allein sein. Vielleicht hat die Beichte sie auch erschöpft, und sie fühlt sich leer.
Wie die Unterhaltung mit einem Roboter ziehen uns Online-Bekenntnisse an, weil jemand, der bislang geschwiegen hat, nun reden möchte. Aber wenn wir diese Seiten dazu nutzen, unsere Ängste loszuwerden, indem wir sie »da draußen abwerfen«, kommen wir der Frage nicht unbedingt näher, was hinter diesen Ängsten steckt. Und wir haben unsere emotionalen Ressourcen nicht unbedingt dazu genutzt, dauerhafte Beziehungen aufzubauen, die uns helfen könnten. Wir können diesen Sachverhalt jedoch nicht der Computertechnologie anlasten. Es sind die Menschen, die sich gegenseitig enttäuschen. Die Technologie befähigt uns lediglich, uns eine Mythologie zu erschaffen, in der dies keine Rolle spielt.
Auf der Suche nach Gemeinschaften
In welchem Rahmen ist es sinnvoll, im Internet Fremden etwas zu bekennen? Es verbindet uns nicht mit Menschen, die uns kennen lernen wollen; vielmehr setzt es uns denjenigen aus, die, wie Jonas, unsere Probleme vielleicht dazu nutzen, ihre eigenen zu verdrängen. Es trägt auch nicht zur konkreten Verbesserung unserer Situation bei. Es hält uns vielleicht sogar davon ab, etwas zur Lösung unserer Probleme zu unternehmen, weil wir das Gefühl haben, bereits »etwas getan« zu haben. Ich weiß, dass es so ist. Aber Menschen,
die im Internet Beichten ablegen, erzählen mir auch, dass sie sich hinterher erleichtert und weniger allein fühlen. Auch das ist also wahr. Wenn solche Internet-Seiten also Symptome sind und wir unsere Symptome brauchen, was brauchen wir dann außerdem noch? Wir brauchen Vertrauen zwischen Gemeinde und Geistlichen. Wir brauchen Eltern, die in der Lage sind, mit ihren Kindern zu reden. Wir brauchen Kinder, denen man Zeit und Schutz gibt, um ihre Kindheitserfahrungen zu machen. Wir brauchen Gemeinschaften.
Molly, achtundfünfzig, eine allein lebende Bibliothekarin im Ruhestand, fühlt sich keiner Gemeinschaft zugehörig. Sie hat keine Kinder; ihr Wohnbezirk ist, wie sie sagt, »keine Gegend, wo man sich kennt. … Ich erkenne nicht einmal die Leute im Supermarkt.« Molly erzählt, sie könne sich noch an das
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