Verloren unter 100 Freunden
Teilnehmer zu melden, die illegale Handlungen bekennen. (Wenn jemand schreibt, er habe einen Menschen umgebracht, verfolgen die Betreiber dieser Seiten die Angelegenheit nicht weiter, sondern gehen davon aus, dass der Eintrag von einem Angehörigen des Militärs stammt.) Aber was ist mit meinem Verantwortungsgefühl? Wenn das kein Spiel ist, wie
sollte man dann nicht Angst bekommen, wenn eine Frau erzählt, dass sie sich von ihrem Liebhaber würgen lässt, bis sie um ihr Leben fürchtet? Oder wenn eine Mutter von kaum zu unterdrückenden Impulsen redet, ihr Baby zu schütteln? Meine Aufenthalte auf Bekenntnisseiten machen mich nervös und unkonzentriert. Da haben Menschen ernsthafte Probleme. Und ich bin Zeuge.
Aber vielleicht ist meine Angst ja fehl am Platz. Manche Leute erzählen mir, was sie im Internet schrieben, habe nur entfernte Ähnlichkeit mit der Realität. Ein junger Mann in den Zwanzigern sagt, das Internet sei unsere neue Literatur. Es sei ein Bericht unserer Zeit, der nicht unbedingt verlange, dass jeder Einzelne die Wahrheit sagt. Eine vierundzwanzig Jahre alte Studentin erzählt mir, sie gehe auf Bekenntnisseiten und schreibe dort irgendetwas, das ihr gerade einfiele, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Ein vierzig Jahre alter College-Professor erklärt, wenn er etwas in einem anonymen Forum tue, schlüpfe er in die Rolle eines »Jedermann«. Für ihn bedeute Anonymität Allgemeingültigkeit. Was er im Internet sage, käme nicht unbedingt aus seiner eigenen Erfahrung: Wenn die Welt gewalttätig ist, fühlt er sich berechtigt, in seinen eigenen Worten über Gewalt zu schreiben. Wenn ich also Online-Bekenntnisse lese und dabei unberührt bleibe, blende ich dann die Stimme einer Frau aus, die mit neun vergewaltigt wurde, oder habe ich aufgehört zu glauben, das Bekenntnis-Internet könne mich mit echten Menschen und ihren wahren Geschichten verbinden?
Als ausgebildete Psychoanalytikerin bin ich darauf eingestellt, nicht zu fragen, ob etwas wahr ist, sondern was die Dinge bedeuten . Das heißt nicht, dass die Wahrheit unwichtig ist, sondern dass Fantasien und Wunschdenken ihre eigenen bedeutsamen Botschaften enthalten. Aber diese Betrachtungsweise ist darauf angewiesen, einem Menschen persönlich zuzuhören. Sie ist darauf angewiesen, die Lebensgeschichte des Betreffenden kennen zu lernen, seine
Kämpfe mit Familie, Freundschaft, Sexualität und Verlust. Im Internet verspüre ich das ungewohnte Bedürfnis, wissen zu wollen, ob jemand »die Wahrheit« sagt.
Eine gute Therapie hilft einem, einen gewissen Sinn für Ironie zu entwickeln, so dass, wenn wir alte und unnütze Muster wiederholen wollen, etwas in uns sagt: »Jetzt fängst du schon wieder damit an; hör damit auf. Du kannst auch etwas anderes machen.« Häufig besteht der erste Schritt zur Veränderung im Entwickeln der Fähigkeit, nicht einfach draufloszuagieren, sondern innezuhalten und nachzudenken. Online-Bekenntnisse halten einen in Bewegung. Man hat seine Sache erledigt. Hat seine Geschichte draußen. Jetzt wartet man auf die Reaktionen. Wir brauchten nicht erst die Erfindung der Internet-Bekenntnisseiten, um uns mit der Externalisierung unserer Probleme zu beschäftigen, anstatt sie uns genauer anzusehen. Aber neben all seinen Vorzügen hat uns das Internet hier eine neue Möglichkeit eröffnet, nicht nachzudenken.
Ich gebe zu, dass Bekenntnisseiten manchen Leuten dazu verhelfen, sich wohler zu fühlen, weil sie sich »abreagiert« haben und wissen, dass sie in ihrem Elend nicht allein sind. Aber mit mir machen sie etwas anderes: Mich beunruhigt mein Unvermögen, den Bekennenden zu helfen. Ich fühle mich mit diesen Leuten und ihren Geschichten verbunden, aber ich merke, dass ich mich, um weiterzulesen, gegen das abhärten muss, was ich vor Augen habe. Bestimmte Arten von Bekenntnissen (und leider einige der brutalsten) lesen sich zu Anfang wie stereotype Texte in bekannten Genres. Wenn mir das begegnet, schalte ich ab und ärgere mich sehr. Ich denke an Joel auf Second Life und seine Zweifel an Noëlles tatsächlichen Selbstmordabsichten. Sehe ich mir hier eine Darbietung an? Oder, wahrscheinlicher: Wie viel Darbietung bekomme ich zu sehen? Werde ich immer abgestumpfter oder bin ich einfach nur realistisch?
13. Kapitel
Ängste
Marcia, sechzehn, im zweiten Jahr an der Silver Academy, hat ihre eigenen Probleme. »Im Moment«, sagt sie, »ist das Bildschirmleben nicht auszuhalten.« Es gefällt ihr nicht, was das Internet bei ihr zum
Weitere Kostenlose Bücher