Verloren unter 100 Freunden
Einkaufengehen mit ihrem Vater als kleines Mädchen erinnern. Damals empfand sie sich als Teil einer Familie, einer Familie in einer nachbarschaftlichen Gemeinschaft. Jeder heutige Besuch im Supermarkt erinnert sie daran, was sie jetzt nicht mehr hat. Sie stellt sich ihre liebsten Bekenntnisseiten als Gemeinden vor und sagt, das helfe ihr, zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Molly hat Geschichten vom Kampf ihrer Mutter gegen den Alkoholismus gepostet. Sie ist Katholikin, aber weder als Kind noch als Erwachsene hat sie sich jemals dabei wohlgefühlt, mit einem Priester über ihr Leben zu reden. »Es gab nichts zu beichten. Ich wäre mir nur vorgekommen, als würde ich mich beklagen.« Zu ihrem »realen Leben« sagt sie: »In meiner Umgebung sehe ich keine guten Menschen mehr. Im Internet habe ich ein paar gute Menschen gefunden.« Sie verwendet das Wort »Gemeinschaft«.
Man kann nur froh sein, dass Molly Unterstützung gefunden hat. Aber ihr Bild von einer »Gemeinschaft« wird getrübt von dem, was die Technik erfordert. Obwohl Molly behauptet, sie habe auf Bekenntnisseiten »gute Menschen« gefunden, verlässt sie die Seite,
wenn ihr das Feedback nicht behagt, damit sie die Kritik nicht mehr zu sehen braucht. Gemeinschaften sind etwas, wo man sich sicher genug fühlt, um Gutes und Schlechtes anzunehmen. In Gemeinschaften kommen andere in schweren Zeiten auf uns zu, also sind wir bereit, uns anzuhören, was sie zu sagen haben, selbst wenn es uns nicht gefällt. Was Molly erlebt, ist keine Gemeinschaft.
Die Betreiber der Internet-Bekenntnisseiten suggerieren uns, es sei Zeit, »unsere Definition von Gemeinschaft zu erweitern«. 7 Das aber beraubt die Sprache ihrer Bedeutung. Wenn wir anfangen, Internet-Plattformen, auf denen wir uns mit anderen tummeln, als »Gemeinschaften« zu bezeichnen, vergessen wir leicht, welcher hohe Anspruch mit diesem Wort eigentlich verbunden ist. Es impliziert, »sich untereinander etwas zu geben«. Es wäre gut, sich das als Richtlinie für Internetportale vor Augen zu halten. Ich glaube, man kann durchaus sagen, dass Bekenntnisseiten diesem Standard in der Regel nicht genügen.
Vielleicht sollte man die Definition für Gemeinschaft nicht erweitern, sondern lieber enger fassen. Für eine Gruppe, die zusammenkam, weil ihre Mitglieder gemeinsame Interessen hatten, gab es früher eine Bezeichnung: Wir nannten das »Club«. Aber wir dachten dabei überwiegend nicht daran, den anderen Clubmitgliedern unsere Geheimnisse anzuvertrauen. Inzwischen sind wir jedoch an einen Punkt gelangt, wo es fast schon als Ketzerei gilt, zu behaupten, MySpace oder Facebook oder Second Life seien keine Gemeinschaften. Ich habe das Wort selbst schon gebraucht und behauptet, diese Plattformen entsprächen dem, was der Soziologe Ray Oldenburg »the great good place« 8 nannte. Das waren Coffeeshops, Parks und Friseurläden, die Treffpunkte für Bekannte und Nachbarn waren, jene Leute, die die Landschaft des Lebens ausmachten. Aber inzwischen denke ich, da war ich voreilig. Ich habe das Wort »Gemeinschaft« für Welten mit schwachen Bindungen benutzt. 9
Eine Gemeinschaft zeichnet sich durch physische Nähe, gemeinsame Interessen, echte Konsequenzen und gemeinsame Verantwortung aus. Ihre Mitglieder helfen einander auf höchst praktische Weise. Meine Urgroßeltern gehörten auf der Lower Eastside von Manhattan zu einer Siedlungsgemeinschaft, in der erbitterte Feindschaft herrschte. Ich wuchs mit Geschichten über diese Zeit auf. Es gab Neid, die Sorge, dass es einer Familie besser gehen könnte als der anderen; man war misstrauisch, hatte Angst, eine Familie könnte die andere bestehlen. Und doch kümmerten sich diese Familien umeinander, halfen sich gegenseitig, wenn das Geld knapp war, jemand krank wurde oder starb. Wenn eine Familie auf die Straße gesetzt wurde, wohnte sie bei Nachbarn. Man begrub sich gegenseitig. Welche Verpflichtungen haben wir anderen gegenüber bei Simulationsspielen? Das war Joels Problem, als er Noëlle auf Second Life beistand. Welche Verantwortung haben wir im richtigen Leben für jene, die wir auf Second Life kennen lernen? Bin ich meines Avatars Hüter?
Und was kommt nach der Beichte?
Nachdem ich mich einen Vormittag lang der Lektüre von Online-Bekenntnissen hingegeben habe, bekomme ich plötzlich Angst vor meiner eigenen Verantwortung. Die Seiten machen klar, dass sie keine IP-Adressen von denen sammeln, die sich anmelden. Täten sie es, so wären sie dafür verantwortlich,
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