Verloren unter 100 Freunden
»Es war, als hätten wir einfach nicht genug miteinander
geredet. Und je weniger wir redeten, desto weniger sahen wir voneinander, und eines Tages war es völlig vorbei.« In den letzten vier Jahren hat Julia ihren Vater weder gesprochen noch gesehen.
Ich treffe Julia an einem möglichen Wendepunkt. Die Winterferien über will sie eine von der Schule geförderte Reise in ein Waisenhaus in Guatemala machen, um dort zu arbeiten. Für die Teilnahme braucht sie die Unterschriften beider Eltern auf einer Einverständniserklärung. Julia hatte große Angst, ihr Vater könnte nicht unterschreiben (»Ich hab doch so lange nicht mehr mit ihm geredet«), aber am Ende tut er es doch und schickt ihr eine Nachricht mit seiner E-Mail-Adresse. Als ich mich mit ihr treffe, ist sie ganz aufgeregt und beklommen: »Also, er hat mir einen Brief geschickt mit der Unterschrift für meinen Pass und gesagt, es täte ihm leid und er würde jetzt gern wieder mit mir in Kontakt bleiben. Also, ich werde jetzt wieder mehr mit ihm reden. … Ich werde es mal mit E-Mails versuchen.« Julia ist noch nicht bereit, persönlich mit ihrem Vater zu sprechen. Für sie wäre das ein zu großer Sprung – vielleicht auch für ihren Vater. Immerhin hat er ihr nicht seine Telefonnummer geschickt. Er hat ihr die E-Mail angeboten als Möglichkeit, sich zu verständigen, ohne direkt miteinander zu reden. »Das ist perfekt«, sagt sie. »Wir müssen unsere Beziehung erst wieder aufbauen. Wenn wir uns eine Weile am Computer unterhalten haben, kann ich ihn mal anrufen und dann vielleicht auch besuchen.« Julia nickt eifrig, während sie mir das erzählt. Es hört sich richtig an.
Sie kennt aber noch eine andere Möglichkeit, ihren Vater zu erreichen: Er hat einen MySpace-Account. Trotzdem erklärt sie, dass sie sich dort »auf keinen Fall« bei ihm melden werde. Erstens ärgert sich Julia, dass ihr Vater diesen Account überhaupt besitzt: »Ich finde, sowas sollte ein Erwachsener gar nicht haben.« Außerdem würde eine Kommunikation über MySpace ihrem Vater auch zu viel Zugang zu ihrem persönlichen Leben verschaffen, und sie würde zu
viel über ihn erfahren. Julia ist sich nicht sicher, ob sie dann der Versuchung widerstehen könnte, ihn zu »beobachten« – sprich: die Seite dazu zu benutzen, sein Kommen und Gehen ohne sein Wissen zu verfolgen. Beim »Stalken« verfolgt man Links, die einen von den Einträgen seiner Beute zu denen ihrer Freunde bringen. Man sieht sich Fotos von Partys und Veranstaltungen an, zu denen der Betreffende vielleicht eingeladen war. Mit wem redet er da? Julia hat Angst, sie könnte versuchen herauszufinden, ob ihr Vater eine neue Frau hat.
Trotz alledem kann Julia es sich nicht verkneifen, sich auf MySpace die weiteren Verwandten ihres Vaters anzuschauen – seine Eltern, Geschwister, Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel. Sie sagt, sie werde sich bei keinem von ihnen melden, zumindest nicht bevor sie ihrem Vater E-Mails schreibt. Sie fragt sich, ob MySpace wohl eine Möglichkeit sein könnte, Stück für Stück zusammenzustricken, was in ihrer Kindheit auseinandergerissen wurde. Und wie könnte sie darüber mit ihrer Mutter reden?
Während sie mir erklärt, dass mit ihrem Vater zu telefonieren ihr im Augenblick »zu viel« wäre, spielt Julia mit ihrem neuen Handy herum. Sie hat sich eins mit ausklappbarer Tastatur ausgesucht, das für Textnachrichten optimiert ist. »Ich wollte das haben«, sagt sie. Julia schickt ihren Freunden viele Male am Tag Nachrichten, fast immer, wenn sie nicht im Unterricht ist. Sie muss aufpassen. Sie erklärt mir, dass es nichts koste, wenn sie an ihre Freunde bei Verizon schreibe. Bei denen, die bei anderen Providern seien, koste es Geld. »Ich wünschte, alle meine Freunde wären bei Verizon«, sagt sie wehmütig. Sie hat eine beste Freundin bei Cingular (ein Konkurrenzunternehmen) und sagt: »Wir schicken uns keine Nachrichten.« Die Lösung: »Wir unterhalten uns in der Schule.« Julia findet, dass das kein erfreulicher Zustand ist.
Ich frage Julia, was sie vom Telefonieren hält. Sie mag es überhaupt
nicht. »Am Telefon komme ich mir komisch vor. Meine Freunde rufen an und fragen: ›Was läuft?‹, und ich sage: ›Nichts‹. Und dann sag ich: ›Okay, ich muss los. Tschüs.‹ Ich fühle mich unwohl, wenn ich telefonieren muss. Ich finde es einfacher zu schreiben.« Julia hat ihr Handy immer bei sich. Wenn sie im Unterricht ist und eine Nachricht kommt, sagt sie, sie müsse aufs Klo,
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